Vor 30 Jahren war vieles anders. Daran, dass nahezu jeder Mensch mindestens ein Handy besitzt, war schon allein von der Technik her undenkbar. Internet, Textmessenger, Streaming-Dienste oder alle heute so selbstverständlichen Apps – pure Science-Fiction. Um die Gleichstellung von Frauen und Männern wurde damals wie heute gerungen. Aber zumindest war man da vor dreißig Jahren schon weiter als noch vor vielen Jahrhunderten.
Heute, wir schreiben inzwischen das Jahr 2023, ist all dies und noch manch anderes, nicht mehr aus unserem Alltag wegzudenken.
Ebenso unverzichtbar sind die 1993 gegründeten Störtebeker Festspiele in Ralswiek. Dies gilt für die Insel Rügen selbst genauso wie für viele Fans und Freunde. Dieses Jahr feiert das Theater auf der Naturbühne am Jasmunder Bodden sein 30-jähriges Bestehen und seine 28.Saison. Hätten die beiden Jahre 2020 und 2021 aus bekannten Gründen nicht ausfallen müssen, würde dieses Jubiläum vermutlich mit dem Ende des aktuellen oder dem Start eines neuen Zyklus gefeiert werden. „Hätte, hätte…“.
Stattdessen wird das Jubiläum, was bei weitem für ein privat betriebenes Theater in dieser Dimension keine Selbstverständlichkeit ist, gebührend mit dem Stück „Gotland unter Feuer“ gefeiert. Ein großartiges Team auf und hinter der Bühne nimmt die Zuschauer mit an das Ende des 14.Jahrhunderts und das vor einer atemraubenden Kulisse.
Von den Zuschauerrängen blickt man direkt auf das Wasser der Ostsee. Eingerahmt wird der Bodden und die Sandsteinküste im Hintergrund von einem imposanten Bühnenbild, welches dieses Jahr einen einzigen Ort darstellt und doch so verschieden ist: Die Insel Gotland, auf der die Vitalienbrüder um Klaus Störtebeker (zum zweiten Mal Moritz Stephan; als wäre die Rolle für ihn geschrieben) und Goedeke Michels (zum vierten Mal Alexander Hanfland; ein Anderer in dieser Rolle ist aktuell kaum vorstellbar) Unterschlupf gefunden haben. Auf der einen Seite ein rustikaler, leicht heruntergekommener Stadtteil, u.a. mit schiefhängenden Schildern und zerschlagenden Fenstern. Hier sind die einfachen Bürger von Visby, der Hauptstadt Gotlands, zuhause. Ihm gegenüber stehen große Torbögen, ein großes Herrenhaus und ein Turm. Das Reich des Hauses Mecklenburgs.
Gefühlt wird jeder Meter dieser beeindruckenden Kulisse bespielt und es kann jeden Moment irgendwo etwas passieren oder jemand hervortreten.
Die große Anzahl der Statisten wird gekonnt eingesetzt. Wenn Markt in der Stadt ist, gibt es auch richtiges Markttreiben. Oder bei einem „Aufruhr“ sind mehr als nur vier, fünf Menschen auf der Bühne. Warum jedoch bei den Szenen des Deutschen Ritterordens und der Königin Margarete mehrere Reiter mit ihren Pferden lediglich Kreise ziehen und mehrmals die Seite wechseln, hat sich nicht jedem Zuschauer erschlossen. Es sah zweifellos beeindruckend aus, erinnerte allerdings mehr an ein Dressurreit-Event, als an einen Augenblick im Alltag des rauen Mittelalters.
Die, teilweise, bereits Störtebeker-erprobten Stuntleute, haben auch in diesem Jahr wieder einiges zu tun. Sie lassen so manchen Kampf oder Sturz vom Turm täuschend echt aussehen. Genauso wie die Pyrotechnik, die in den bewährten Händen des Teams um Fred und Tim Braeutigam liegt. Gerade beim Finale spürt der Zuschauer die Hitze der Explosionen, was bei den frischen Temperaturen sehr angenehm war. Auch das Aufleben des Sketches der verirrten Kugel und des zeternden Kochs (alias Tim Braeutigam) passt wunderbar ins Bild.
Die Musikauswahl für den Balladensänger (seit vielen Jahren Wolfgang Lippert) verkürzt nicht nur die Übergänge zwischen den Bildern. Sie sind auch passend gewählt und großartig vorgetragen. Neben dem Evergreen Albatros von Karat (den die regelmäßigen Besucher vermutlich schon erwarten), singt „Lippi“ u.a. auch den Song „Am Fenster“ von City, einen der erfolgreichsten Songs der ostdeutschen Rock-Gruppe.
Im letzten Jahr galt er als die Entdeckung im Ensemble, dieses Jahr ist Viktor Nilsson gleich in vier Rollen zu sehen. Diese spielt er so unterschiedlich und wurde von den Maskenbildnern so gut verkleidet, dass manch einer erst bei der Vorstellung des Ensembles seine Vielbeschäftigung wahrnahm. Am meisten sticht da die Rolle des Johann von Mecklenburg heraus. Herrlich und sehenswert ist die Darstellung seiner Verzweiflung und seines Hilfesuchen bei den Vitaliern.
Ebenso großartig ist das Spiel von Rückkehrerin Bianca Warnek als Sophie von Pommern-Wolfgast. Verdrehte sie 2017 der Hauptfigur noch den Kopf, so versucht ihre Figur dieses Jahr einen erbitterten Kampf gegen alle Obrigkeiten und jene, die sich gegen sie auflehnen, zu führen, um am Ende doch zu verlieren.
Die zweite Frau im Ensemble ist Martina Guse. Als resolute Wirtin in Visby versucht sie sich gegen die Schurken zur Wehr zu setzen. Am Ende weißt sie sogar zwei Männer in ihre Schranken. In ihrer zweiten Rolle als Königin Margarete von Dänemark bleibt sie, trotz des kurzen Auftritts, mit ihrer überzeugenden Stimme und Ausstrahlung in Erinnerung.
Dieses Mal ohne den „Kleenen“ auskommen muss Siggi, alias Charles Lemming. Auch ohne seinen Partner schafft er es sich hin und wieder gegen seine Freunde Goedeke und Klaus zu behaupten und findet am Ende sogar seine große Liebe.
Fällt der Auftritt von Norbert Braun als Konrad von Jungingen in der ersten Hälfte noch etwas kurz aus, so gerät sein Anteil in der 2.Hälfte deutlich größer. Er sorgt sogar dafür, dass der Titel des Stücks Programm wird. Ihm zur Seite steht Volker Wackermann als Johann von Pfirt. Zu Beginn des Stücks tritt er auch noch als Erich von Mecklenburg in Erscheinung und weiß auch dies so gekonnt umzusetzen, dass es nicht gleich auffällt, dass hier eine Person zwei Rollen verkörpert.
Den Abschluss macht der Hauptmann Sven Sture alias Mike Hermann Rader. Er gehört inzwischen fast zum Inventar der Bühne und steht meistens auf der Gegenseite von Klaus Störtebeker. Diese Rollen spielt er mit so einer Inbrunst und Überzeugung, dass einem keine Rolle wie die andere vorkommt.
Die Geschichten von Klaus Störtebeker sind Legenden, niemand kann sich sicher sein, dass es diesen Piraten einmal gegeben hat, geschweige denn, dass er immer einen kleinen Anteil an der Geschichte und der Machtverhältnisse im Baltischen Raum hatte. Dennoch wird darauf hingewiesen, dass wir uns im Mittelalter befinden, in dem zweifelsohne viele Ansichten und Vorgehensweisen sich deutlich von den heutigen unterscheiden. Die Rolle der Frau und das Verhältnis zwischen den Geschlechtern war damals grundsätzlich anders. Die Gesellschaft des Mittelalters war maßgeblich von Männern dominiert und diese dominante befehlende Herrschaft war allgegenwärtig. Die Geschichte kennt nur wenige Ausnahmen aus dieser Zeit, in der sich Frauen gegen eine von Männern dominierte Welt durchsetzen und behaupten konnten. Der mehrfache Ausspruch, die Frauen seien nur zum Kinderkriegen da und der regelmäßig gespielte Versuch der Sophie von Pommern-Wolgast, sich dagegen aufzulehnen wirkte fast aufdringlich. Ob es in der heutigen Zeit nötig ist, in einem Theaterstück diese Thematik derart zu strapazieren, müssen andere beurteilen. Es hat aber nicht nur bei mir, sondern auch bei mehreren anderen Zuschauern, einen faden Beigeschmack besessen.
Auf anderen Bühnen wird diese Thematik dieses Jahr ebenfalls aufgegriffen, jedoch dezenter. In Bad Segeberg zum Beispiel ist die Figur der Nscho-tschi nicht mehr auf die „hilflose“ Häuptlings-Tochter und Liebende reduziert. Sie wird als ihrem Bruder ebenwürdig dargestellt.
Bevor ich zum Schluss komme, möchte ich noch eine Sache beschreiben, die mir nicht nur beim Besuch dieses Theaters aufgefallen und leicht aufgestoßen ist: Ja, diese Geschichten sind für die ganze Familie, von jung bis alt. Wo findet man heutzutage noch etwas wofür sich die Enkelkinder genauso begeistern können, wie die Eltern und Großeltern. Aber: eine Vorstellung mit einem Kleinkind zu besuchen, welches nicht älter als 1-2 Jahre ist, sollten die Eltern vor einem Besuch überdenken. In unserer Vorstellung verließ eine Mutter mit ihrem kleinen Kind ca. 10 Minuten nach Beginn der Vorstellung den vorderen Zuschauerraum, da sich das Kind, vermutlich durch die Explosionen und anderen lauten Geräusche, nicht beruhigen ließ. Ähnliches gilt für Hunde. Auch diese dürfen – für ein Theater selten genug – mit in die Vorstellung genommen werden. Verständlicherweise möchte man im Urlaub sein Haustier nur ungern in einer Ferienwohnung zurücklassen, da man nicht weiß, wie das Tier auf die Fremde Umgebung reagiert, wenn es allein ist. Meiner Meinung nach haben Hunde in einem Theater mit Pyrotechnik und anderen Spezialeffekten nichts zu suchen und werden auch für die Zuschauer eher zum Problem. Hierüber sollten die Halter der Tiere aber auch die Veranstalter nachdenken. Es gibt für alles Lösungen, damit man dieses einzigartige Stück und Theater ungestört und voller Genuss besuchen kann.
Womit wir am Ende des Textes sind. Das vierte und somit vorletzte Stück des aktuellen Zyklus, ist ein Muss für jeden Rügen-Urlauber, Festspiele-Liebhaber, Mittelalter-Freund oder für jemanden, der einen Abend lang gut unterhalten werden möchte. Allein die Besucher um mich herum kamen aus allen Ecken der Republik – Baden-Württemberg, Berlin, Nordrhein-Westfalen. Unter ihnen seit vielen Jahren treue Gäste und Ersttäter, die sich schon vorgenommen haben im nächsten Jahr wiedezukommen.
Der Familie Hick und ihren Mitarbeitern ist es wieder einmal gelungen, auch nach 30 Jahren, eine neue Geschichte zu erzählen.
Bis zum 09.09 steht noch „Gotland unter Feuer“. Im nächsten Jahr kommt es dann zum großen Showdown. In „Hamburg 1401“ heißt es dann Klaus Störtebeker oder die Hanse.
Da werden Köpfe rollen.