Das lange Warten hat ein Ende – Karl May‘s Helden reiten wieder!
Der 24.06.2023 könnte in verschiedener Hinsicht in die Geschichte eingehen. International mag er vielleicht der Tag sein, an dem ein interner Machtkampf in Russland die Welt erneut entscheidend verändert. Für den Kreis der Freunde und Anhänger der Aufführungen von Karl May’s Fantasiegeschichten ist es vielleicht der Tag, an dem sich eine neue Art der Inszenierung aus dem Schatten des Kalkbergs in das Licht der Theaterwelt bewegte. Wovon ist die Rede? Wir reden von der Premiere der diesjährigen Inszenierung „Winnetou I- Blutsbrüder“ frei nach dem Roman von Karl May. Dass am Kalkberg schon lange keine pure Romanumsetzung erfolgt, ist freilich keine Neuigkeit. Aber bekanntlich führen viele Wege nach Rom. Der Premierenabend zeigt, dass in diesem Jahr ein von den Pfaden des letzten Jahrzehnts doch abweichender Pfad eingeschlagen wurde.
Kommen wir vom Allgemeinen zum Speziellen: die Inszenierung darf sich zu den Besten in der langen Geschichte der Karl-May-Spiele zählen. Hausautor Michael Stamp (der übrigens längst überfällig zum ersten Mal in dieser Funktion namentlich auf den Postern und Flyern aufgeführt wird) hat zum nunmehr dritten Mal den ersten Band der berühmten Trilogie in die Bearbeitung genommen und dabei deutliche Änderungen gegenüber seinen ersten beiden Interpretationen vorgenommen. Das Buch stellt auch in diesem Jahr die bewährte Mischung von Karl May Romantik und Friedensbotschaft, sowie Action und frei erfundenen Spannungs- bzw. Humormomenten dar. Eine Mischung, die seit Jahren die Kassen klingeln lässt, selbst wenn Aufführungen vom künstlerisch verantwortlichen Regisseur schwach umgesetzt wurden (siehe Vorjahr). Neben Stamp steht der erfahrene Spielleiter Stefan Tietgen und der bereits im zweiten Jahr als Inspizient auf der Hinterbühne agierende Marc Francisco. Zu diesen erfahrenen Kräften hinter der Bühne tritt nun auch ein Regisseur der wie wohl kein anderer, seit dem als „Retter“ der angeschlagenen Karl-May-Spiele vor über dreißig Jahren agierenden Klaus-Hagen Latwesen, die weite Bühne am Kalkberg kennt: Nicolas König. Nico, wie ihn die meisten Fans und Mitwirkenden rufen, zeigte sich bereits in den Vorjahren als aufmerksamer Beobachter der jeweiligen Inszenierungen und besitzt seit jeher eine klare persönliche Vorstellung hinsichtlich der Frage, wie man Karl May am Kalkberg inszenieren sollte. Seine Anfänge als Darsteller reichen bis 1992 zurück als mit Serge Nicolaescu ein Regisseur am Kalkberg antrat und Kinoformat als Basis seiner Inszenierungen wählte. Mit der Absicht angetreten, hohes Tempo bei klarer und nachvollziehbarer Erzählung eines spannenden Stoffes inszenieren zu wollen, darf König bereits heute den Vollzug seines Auftrags melden. „Winnetou I“ ist eine erfrischend schnelle, von einer kurzweiligen Geschichte und einem starken Ensemble getragenen Inszenierung, die auch den mehrfachen Besuch der Arena rechtfertigt. Doch neben Tempo treten auch Empathie, Geduld und Hingabe für die nachdenklichen, romantischen und tragischen Momente. Denn „Winnetou I“ spielt gefühlt auf der gesamten Klaviatur der Emotionen.
Bevor die Handlung einsetzte betrat wie in vielen Jahren zuvor die Geschäftsführerin der Kalkberg GmbH unter Fanfarenstößen das weite Rund. Die magische Atmosphäre des Augenblicks blieb nicht ohne Wirkung auf Ute Thienel, die folgende Begrüßung viel etwas holprig aus. Den Hinweis und Bezug auf das 70-jährige Jubiläum der Karl-May-Spiele brachte sie erst ein nachdem Aufsichtsratsvorsitzender und gleichzeitig Bürgermeister Köppen, sowie Ministerpräsident Günther ihre Grußworte gesprochen hatten. Alle drei meisterten den offiziellen Part, der im Übrigen diesmal von jedweder Unterbrechung verschont geblieben war, mit Humor und Augenzwinkern. Es folgte der traditionelle erste Schuss der neuen Spielzeit und die Saison galt als eröffnet.
Das große Spiel der Gefühle beginnt bereits mit der ersten Szene. Die bekannte und bewährte raue Stimme von Erzähler Reiner Schöne führt uns in das frühe 20. Jahrhundert. Eine Zeit, in der Postkutschen im ehemaligen Wilden Westen schon als Rarität gelten und die Erinnerung an wilde Mustangs, Büffelherden und vor allem die stolzen Ureinwohner bereits verblasst ist. Es ist ein alter Mann, der in einen Reiseumhang gekleidet, ergraut und ergriffen von der Umgebung die Kutsche verlässt. Es handelt sich um keinen anderen als Karl May selbst. Harald P. Wieczorek, dem ältesten und auch erfahrensten Mitglied des Ensembles (seit 1979 mit Unterbrechungen dabei), bleibt es vergönnt, diesen einzigartigen Auftritt zu zelebrieren. Verträumt und verklärt legt er dem Kutscher (Stephan A. Tölle) dar, was dieser Besuch für ihn bedeutet. Welche Gedanken und Fantasien er mit diesem Ort verbindet. Ein Ort, an dem alles begann und endete. Ein Ort, an dem er ein unsterbliches Band der Freundschaft zu einem einzigartigen Vertreter der Ureinwohner wob – Winnetou. Kaum diese Gedanken ausgesprochen verschwindet Wieczorek in einer Qualm-Wolke und an seiner statt erblicken wir sein jüngeres Alter Ego: Old Shatterhand. (Der Eindruck der Szene leidet zwangsläufig etwas unter dem unkalkulierbaren Wind, der die Staubwolke schneller vertreibt als der Personalwechsel erfolgen kann – trotzdem wurde dieser Moment vom Publikum mit großem Applaus belohnt.)
Old Shatterhand wird in diesem Jahr von Bastian Semm verkörpert. Semm selbst erweist sich von Beginn an als ein Hoffnungsträger für die Inszenierung und wirkt agil, kraftvoll und teilweise fast schon so überschwänglich jugendlich, dass man kaum glauben mag, dass er schon 43 Jahre alt ist. Wenn er aus dem Nebel auftaucht, im Lederkostüm, das Repetiergewehr in der Hand, ist er allerdings nicht das Greenhorn des Romans. Nein, auch in dieser Inszenierung kommt Old Shatterhand als kenntnisreicher und durchaus erfahrener Mann in den Wilden Westen. Akzeptiert man diesen Ansatz, füllt Semm seine Rolle perfekt aus, erhält ausreichend Gelegenheiten, sein schauspielerisches Können in jeder Hinsicht unter Beweis zu stellen und sich als idealer Teil eines Blutsbrüderpaars zu positionieren. Hier dürfen wir schon vermerken: bitte mehr davon! Semm hat das Kaliber, zu einer neuen Identifikationsfigur am Kalkberg aufzusteigen und sich als würdigen Nachfolger für den vielfachen und für viele einzigartigen Old Shatterhand-Darsteller Joshy Peters zu erweisen. Doch bereits Sekunden nach dem ersten Blick auf den neuen „Scharlih“ erfolgt die nächste gelungene Überraschung. Old Shatterhand wird abgeholt von Sam Hawkens (Volker Zack). An der Figur des alten Westmann scheiden sich seit jeher die Geister. Manche sehen in ihm den liebenswerten Trottel, dessen Aufgabe es ist, Stichwort- und Impulsgeber für andere zu sein. Nur selten löst man sich in der Bühnen- und Filmwelt von diesem Ansatz und präsentiert stattdessen einen skurrilen, aber doch selbständigen Charakter mit einem feinen Sinn für Humor. Nun braucht man für letzteres auch den richtigen Schauspieler. Mit Volker Zack, der bereits, genau wie Semm, lange Jahre Erfahrungen bei den Freilichtaufführungen auf Rügen sammeln konnte, ist dies in ungewöhnlich herausragender Weise gelungen. Mit wohlüberlegtem, unaufgeregten und doch von List und Humor geprägten Spiel präsentiert uns Zack einen Hawkens, dem man so gerne auch die Zeit und Gelegenheit zur Ausbildung des Greenhorns gewünscht hätte. Leider lässt das eine Theateraufführung mit knappen Zeitbudget nicht zu. Trotzdem erweist sich Zack wie kaum ein zweiter in der Geschichte der Karl-May-Spiele dieser Rolle und Aufgabe würdig. Er gibt mit absoluter Selbstverständlichkeit Lebensweisheiten preis, hinterfragt die Welt und steht im Kampf seinen Mann.
Kaum haben die beiden den Ritt zum Eisenbahnerlager angetreten, wechselt die Szenerie und wir finden uns im Pueblo der Apachen wieder. Dort findet eine an den traditionellen Sonnentanz angelehnte Zeremonie statt. Bei Musik (indigen orientiert ohne irgendwelchen Hit-Charakter) und Tanz erfreut sich Häuptling Intschu-tschuna (wie 2007 von Joshy Peters dargestellt) daran, dass seine junge Tochter Nscho-tschi (Nadine Menz) erstmals selbst daran teilnehmen darf. Es ist ein stimmungs- und friedvolles Bild, dem sich der Zuschauer entspannt hingeben kann. Doch der Friede währt nicht lange. Pida, der Sohn des Kiowa-Häuptlings Tangua stürmt regelrecht in das friedliche Fest und fordert die Apachen auf, an seiner Seite gegen die landraubenden Bleichgesichter zu kämpfen. Gelegenheit für die junge Darstellerin und Häuptlingstochter sich als energischer, kämpferischer und spontaner zu erweisen als es sich ihr Vater Intschu-tschuna vorzustellen vermag. Eine modern und selbstbewusst inszenierte Figur, irgendwie dem aktuellen Zeitgeist geschuldet. Nadine Menz, die als Newcomerin und Gaststar unter besonderer Beobachtung steht, gelingt der Spagat zwischen der traditionellen Darstellung und der modernen Interpretation sehr gut. Ihr Zusammenspiel mit dem Bühnenbruder Winnetou und dem ebenfalls debütierenden Bastian Semm wirkt stets gelungen und gefühlvoll. Ihr Spiel changiert zwischen Selbstsicherheit und jugendlichen Leichtsinn bis hin zur Verspieltheit. Manchmal ist weniger mehr. Trotzdem hat das etwas übertrieben kindliche Spiel seinen Reiz und verfehlt beim Premierenpublikum seine Wirkung nicht. Ihre größten Momente, d.h. die Offenbarung ihrer Gefühle gegenüber Old Shatterhand und natürlich ihre Sterbeszene sind intensiv und leidenschaftlich gespielt. Gerade in letzterer war es still in der Arena und das Zusammenspiel mit dem sichtbar um Fassung ringenden Bastian Semm alias Old Shatterhand war bewegend. Nadine Menz ist somit eine würdige Nachfolgerin der diversen Vorgängerinnen auf der Position der Häuptlingstochter. Gönnen wir uns an dieser Stelle eine Betrachtung ihrer restlichen „Familie“. Ihr Vater, Intschu-tschuna, der Häuptling aller Apachen wird wie 2007 von Kalkberg-Veteran Joshy Peters gespielt. Dieser kann unverändert darauf setzen, beim Publikum ein oder vielleicht der Favorit und Liebling zu sein. Sein Spiel als Häuptling mag routiniert wirken. Aber seine Rolle als Vater, der sich sterbend und den Namen seiner Tochter flüsternd an die ebenfalls tödlich verwundete heranrobbt, verkörpert er mit Pathos und tragischer Leidenschaft. So gerät gerade die Sterbeszene am Nugget-Tsil gegen Ende der Aufführung zum Höhepunkt der ganzen Inszenierung. Doch davon später mehr. An der Seite von Peters agiert im ersten Viertel in einer gegenüber früheren Aufführungen mit größerem Raum ausgestatteten Rolle Harald P. Wieczorek (seine zweite Rolle in dieser Aufführung) den alten weisen Klekih-petra, den Lehrmeister der Apachen. Einst aus Europa nach Amerika gekommen hat er den Versuch unternommen, die Weisheiten beider Kulturen miteinander zu vereinen. Wird die Figur im Buch als gehandicapt beschrieben, so spielt sie Wieczorek hier als rüstigen, wortgewandten und diplomatischen alten Mann, der sich auf Augenhöhe zu Häuptling Intschu-tschuna sieht. Mit augenzwinkerndem Humor weist er Intschu-tschuna darauf hin, dass auch dieser einst ein übermütiger, ungestümer junger Krieger war. Bedenkt man, wie lange beide Schauspieler dieser Bühne verbunden sind und wie viele Abenteuergeschichten sie in dieser staubigen Arena ausgefochten haben, ist auch dies ein melancholischer und herzerwärmender Moment. Alles ist vergänglich. Nicht nur für die Romanfiguren, sondern auch für diese beiden bewährten und so geschätzten Schauspieler an dieser Spielstätte. Wieczoreks Klekih-petra kann kraftvoll die Stimme zum Widerspruch erheben, sanft für die Sache des Friedens sprechen und noch im Tode um Miteinander und Freundschaft bitten. Auch dieser Moment ist von Regisseur König gefühlvoll inszeniert.
Kehren wir an dieser Stelle zurück zu der zuvor beschriebenen Szene im Pueblo. Am Ende des Sonnentanzes tritt Pida, der Sohn des Kiowa-Häuptlings Tangua auf. Bebend vor Hass und Zorn auf die weißen Eindringlinge fordert er Intschu-Tschuna auf, dieser möge sich mit den Apachen am Kampf gegen die Eisenbahnarbeiter beteiligen. Inbrünstig und leidenschaftlich wirbt er für diesen Krieg und wird umso wütender je mehr seine Worte wirkungslos verpuffen. Ja, er erdreistet sich sogar, das Messer gegen Klekih-petra zu richten. Der Mann, der diesen jungen impulsiven Krieger verkörpert ist kein geringerer als Sascha Hödl. Hödl, der für viele ob seiner Wandlungsfähigkeit und Ausdrucksstärke nicht zuletzt im vergangenen Jahr zum Geheimtipp und eigentlichen Star geriet, darf auch als Pida alle Stärken seines Spiels nutzen. Kraftvoll, wie ein Vulkan brodelnd bedient er alle emotionalen Facetten. Sein Pida ist wild, nachdenklich, zum gnadenlosen Kampf bereit und doch dem persönlichen Wort und der Ehre verpflichtet. Im Zwist zwischen der Pflicht, die Wünsche seines Vaters zu erfüllen und doch gegebene Versprechen zu halten, unnötiges Blutvergießen zu vermeiden. Hödl meistert diesen Part, diese Rolle, die ungewöhnlich groß angelegt worden ist, meisterhaft. Er lebt seine Rolle, verschmilzt mit ihr wie man es selten erleben darf. Unnachahmlich reitet er verwegen über die Bühne, führt sein Pferd meisterlich durch alle Situationen. Hödl spürt die Ambivalenz seiner Rolle, stürmt wie ein Wirbelwind durch seine Szenen, kämpft brüllend mit höchstem körperlichem Einsatz, und kann doch mit sonorer und doch sanfter Stimme den Zweifeln seiner Figur Ausdruck verleihen. Nicht zuletzt der hohe Applausanteil belegt, dass sich viele sein dauerhaftes Mitwirken an dieser Bühne wünschen. Dass er auch zu noch größeren Taten im Schatten des Kalkbergs fähig ist und diese Herausforderung auch nicht zu scheuen braucht, wissen wir spätestens, seit er im vergangenen Jahr mehrfach für den erkrankten Hauptdarsteller einsprang. Autor Michael Stamp hat die Gelegenheit genutzt und den beiden so gegensätzlichen Vater-Sohn Gespannen viel Raum gegeben. Es scheint wie ein Kampf zwischen Licht und Dunkelheit, Gut gegen Böse. Die in helles Leder gekleideten Apachen gegen die in dunkel gewandeten Kiowas. Intschu-tschuna gegen Tangua, Winnetou gegen Pida. Letztgenannter im Zweifel, ob der Weg des Vaters voller Hass und Wut der richtige ist.
Doch auch hier wieder zurück zu der genannten Sonnentanz Zeremonie. Denn so wie sich die Tänzer drehen, dreht sich auch hier das Rad der Auftritte und wir kommen zum Protagonisten der Geschichte: Winnetou! Zum dritten Mal verkörpert Alexander Klaws den edlen Apachen. Der vielbeschäftigte Sänger und Entertainer präsentiert sich in körperlicher Bestform und bietet seine bisher beste Leistung im Rehlederkostüm. Bekanntlich wächst man mit der Herausforderung. Die Vorlage „Winnetou I“ stellt sicherlich die größten Anforderungen an einen Winnetou Darsteller. Er muss sich vom einem über seinen Weg unsicheren Kronprinzen hinauf zum neuen obersten Häuptling entwickeln. Sorgen, Wut und Emotionen zu beherrschen und zu kontrollieren lernen. All dies gelingt Klaws in ansprechender Weise. Im Handgemenge und Zweikampf (in diesem Jahr fulminant von Stuntkoordinator Steve Szigeti choreografiert) überzeugt er und fliegt dabei regelrecht seinen Gegnern entgegen. Textsicher spielt er sich durch alle Phasen seiner Entwicklung hindurch, harmoniert dabei mit seiner Bühnenfamilie und dem künftigen Blutsbruder. Semm und Klaws ergeben nicht nur als Bildmotiv ein stimmiges Paar. Daher ist es auch sehr bedauerlich, dass wir nicht direkt in der Anschlusssaison mehr von diesen Blutsbrüdern erleben dürfen. Denn seit 1979 werden die Segeberger Fassungen von Winnetou II auf Old Firehand und nicht Old Shatterhand als Begleiter des Apachen reduziert.
Ein kleines, für den nicht ultimativen Alexander Klaws Fan bestimmendes, Problem bleibt. Es mag vielleicht seinen vielfältigen sonstigen Engagements geschuldet sein, dass ihm unverändert der Hauch des Indigenen, des exotischen, des männlichen und charismatischen „edlen Wilden“ zu fehlen scheint. Ein abschließender Auftritt im weißen Anzug, singend und von einer tollen „Show“ schwärmend scheint da auch nur bedingt passend. Karl May am Kalkberg ist weder ein Musical noch eine Samstagabend Revue. Klaws spielt zwar einen dynamischen Winnetou. Doch er wirkt nicht mit dieser Rolle verschmolzen wie ein Hilgers, Mitic oder Sosniok. Der verdiente große Applaus bestätigt allerdings, dass Klaws vom Publikum als Winnetou geschätzt und gewürdigt wird.
Im Anschluss an die im Pueblo spielenden Szenen, lernen wir mit Dick Stone (Stephan A. Tölle) und Will Parker (Livio Cecini) die fehlenden Blätter des „Kleeblatts“ kennen. Der gemeinsame Auftritt legt humorvoll und lustig dar, dass der tollpatschige Will Parker noch seinen Platz im Trio sucht, sich ständig bewähren und beweisen will. Dabei richtet er allerdings mehr Schaden als Gutes an. So frei die Szene auch gestaltet ist, so liebevoll ist sie voller Humor gespielt. Die Kostüme erinnern an das Erscheinungsbild des Kleeblatts in den Rialto Verfilmungen und diese Hommage erfreut das Herz des Filmfreunds. Spätestens zu diesem Zeitpunkt hat das Publikum bereits das komplette Trio in sein Herz geschlossen. Auch hier gilt: dieses „Kleeblatt“ wollen wir gerne wiedersehen. An die Romanvorlage lose angelehnt entwickelt sich ein kurzes Gespräch zwischen Sam Hawkens und Old Shatterhand über dessen ungewöhnliches Gewehr. Von Sam Hawkens voreilig als Verkaufsschlager bezeichnet, sorgt sich Old Shatterhand über die vernichtende Feuerkraft des „Henry-Stutzens“, wenn es zu einer Massenproduktion kommt. Old Shatterhand gibt eine Kostprobe seiner Zielgenauigkeit, womit er die Aufmerksamkeit von Rattler auf sich zieht.
Der Schurke wird in diesem Jahr von Dustin Semmelrogge verkörpert. Damit tritt er in die Fußstapfen seines Vater Martin, der 2009 als Bösewicht am Kalkberg spielte und in bester Erinnerung blieb. Dustin Semmelrogge weckt Erinnerungen an seinen Vater und kann darüber hinaus durch seine individuellen Fertigkeiten und eigene Persönlichkeit überzeugen. Sicher im Sattel, changierend im Spiel und mit ausdrucksstarker Mimik kann er jeden Moment begleiten. Sei es als etwas einfältiger böser Handlanger, sei es als Betrunkener oder als eiskalter Mörder. Seine Auftritte machen stets Appetit nach mehr und ziehen die volle Aufmerksamkeit auf sich. Semmelrogge ist es auch vorbehalten, den Auftritt des eigentlichen Drahtziehers und Organisator aller bösen Taten vorzubereiten: Santer! Mit dieser Figur hat Karl May eine romanübergreifende Figur geschaffen, die für die schlimmsten Schicksalsschläge im Leben Winnetous verantwortlich ist. Diese Rolle hat seit jeher nach einem besonderen Schauspieler verlangt. Nach einem Mann, der von bösartiger und skrupelloser Zielstrebigkeit ist, der, um seiner persönlichen Bereicherung willen, über Leichen geht. Unglücklicherweise wurde in der berühmten Filmversion aus dem Outlaw ein gewiefter und dabei nicht weniger skrupelloser Geschäftsmann gemacht. Auch hier folgen die meisten Bühnen diesem Ansatz. Dieser Charakterisierung folgend überraschte somit auch nicht die Verpflichtung von Wolfgang Bahro, der als opportunistischer Rechtsanwalt seit Jahrzenten die erfolgreiche RTL-Soap „Gute Zeiten, schlechte Zeiten“ dominiert. Sein Santer ist der in den Wilden Westen katapultierte „Jo Gerner“ aus der Fernsehserie. Zwar darf er seine Skrupellosigkeit durch eigenhändigen Mord unter Beweis stellen, aber zu robusteren Auftritten kommt es nicht, die bleiben hingegen Dustin Semmelrogge alias Rattler vorbehalten. Die vielfältigen Anspielungen auf seine GZSZ-Rolle lösen zwar die gewünschten Lacher beim Publikum aus, nehmen der Rolle des Santer aber auch etwas von der Ernsthaftigkeit. Bahro spielt seine Rolle solide, gestützt auf seinen Handlanger Rattler. Das Gespann funktioniert gut aber den regelmäßigen und langjährigen Besuchern wird Semmelrogge vermutlich stärker in Erinnerung bleiben, als der irgendwie dann doch zu liebenswert erscheinende Bahro. In einem kurzen Gespräch mit Old Shatterhand werden die Fronten klar gezogen, Gut gegen Böse abgegrenzt, Profitgier versus Vertragstreue und Respekt gestellt.
In der Folge dürfen wir uns über ein erneut fulminant inszeniertes Handgemenge zwischen Winnetou, Pida und diversen Kiowa Kriegern freuen. Gerettet wird der Apache überraschend durch das Erscheinen seiner Schwester – offenbar vermuten die Kiowas hinter ihr noch weitere Verstärkung. Das dem nicht so ist, sondern der selbstsichere Auftritt der Schwester alleine ausgereicht hat, spricht für die Persönlichkeit der jungen Frau. Nadine Menz kann auch hier im Wechselspiel zwischen kleiner Schwester und dominanter Häuptlingstochter überzeugen.
Derweil hat der um Bewährung und Anerkennung ringende Will Parker (Livio Cecini) eine Tanzgruppe zur Unterhaltung der hart arbeitenden Eisenbahner organisiert. Die dargebotene Tanzeinlage ist flott, unterhaltsam und bietet ein schönes Bild, trägt aber zur eigentlichen Handlung nichts bei. Aus der Szene heraus entwickelt sich ein koketter amouröser Dialog zwischen Lucille, der Chefin der Tanzgruppe (kurzer Auftritt für Laura Hornung) und Santer. Für Hornung fällt die Szene leider sehr kurz aus, man hätte ihr bei all ihrer Einsatzfreude durchaus mehr Raum gegönnt. Die gemütliche Runde wird aufgelöst durch das Erscheinen von Old Shatterhand der Santer wegen der alle Vereinbarungen mit den Apachen ignorierenden Änderung der Baupläne zur Rede stellen will. Mit dem dann folgenden (den vorhergehenden Auseinandersetzungen nicht nachstehenden) Faustkampf verdient sich der junge Vermessungsingenieur auch buchgetreu den „Kriegsnamen“ der Schmetterhand.
Kaum hat sich diese Szene aufgelöst, kommt es zu einer wahren Premiere in der langen Geschichte der Karl-May-Spiele. Winnetou, Nscho-tschi und Pida erscheinen an drei unterschiedlichen Positionen. Jeder von ihnen führt ein persönliches Zwiegespräch mit Manitou. Abwechselnd bitten sie um ein Zeichen, um seinen Rat. Sie erzählen von ihren Ängsten und Träumen. Von leiser Musik unterlegt ist dies ein Moment, der alle Aufmerksamkeit auf sich zieht und der die Zuschauer in seinen Bann schlägt. Alle drei Akteure tragen dies mit inniger Überzeugung vor.
Es folgt der erneute Wechsel in das Camp der Eisenbahnarbeiter. Dem Rat von Klekih-petra folgend reiten Winnetou, Intschu-tschuna und Nscho-tschi in Begleitung einer Anzahl von Kriegern in das Lager ein und verlangen eine Erklärung für die eigenmächtige Verlegung der Eisenbahnschienen quer durch ihre Jagdgründe. Nachdem Santer zunächst versucht hat, die Verantwortung dafür auf den jungen Landvermesser zu schieben, drängt sich der angetrunkene Rattler durch die Anwesenden. Respektlos fordert er die Besucher auf, mit ihm zu trinken. Die Weigerung Winnetous nicht akzeptierend, versetzt ihm dieser einen Schlag. Diese Beleidigung versetzt Rattler in rasende Wut. Bevor ihn noch irgendjemand daran hindern kann, zieht er den Revolver und trifft den sich in die Schussbahn werfenden Klekih-petra. Der Knock-Out durch Old Shatterhands Faust kommt zu spät, der Schaden ist schon angerichtet. Sterbend verlangt der alte Lehrer der Apachen nach einem Gespräch mit Old Shatterhand und fordert ihn auf, sich mit Winnetou in Freundschaft zu verbinden. Doch der vom Verlust tief getroffene Apache schwört nur Rache, an Versöhnung ist nicht zu denken. Die Szene, die trotz aller Kürze im Wesentlichen der Romanvorlage folgt, endet in einem ergreifenden Schauspiel. Auch wenn in diesem Jahr die Rolle des weißen Lehrers klein ausfällt, so füllt Harald P. Wieczorek diese mit großem Pathos und Überzeugung aus. Trauer und Zorn auf der einen, Hilflosigkeit und Entsetzen auf der anderen Seite – Alexander Klaws und Bastian Semm als Blutsbrüder in Spe agieren in dieser Szene mit großer Intensität. Joshy Peters als sich mühsam beherrschender Häuptling, der seinen langjährigen Vertrauten verloren hat und Nadine Menz als erzürnte Tochter runden das Bild dieser Szene ab.
Typisch für den neuen Inszenierungsstil ist der erneut lückenlose Übergang zu der weiteren Handlung. Kaum hat der Zuschauer den Schock des plötzlichen Todes verdaut, wechselt die Szenerie schon zu einer ungewöhnlichen Bestattungsszene. Klekih-petra wird zu Grabe getragen. Während sein Leichnam in der Krone eines abgestorbenen Baumes eingebettet wird und dieser in einem mystischen Moment in Flammen aufgeht, treffen sich zeitgleich Pida (Sascha Hödl), Sam Hawkens (Volker Zack) und Old Shatterhand (Bastian Semm) abseits des Begräbnisses. Der listige Westmann Hawkens unterbreitet dem Kiowa das Angebot, diesem die Apachen in die Hände zu spielen, um damit deren Rache zu entgehen. Dafür muss Pida versprechen, dass das Leben der Apachen verschont wird. Der junge Kiowa geht auf den Vorschlag ein und so gelingt es ihnen, die nach Abzug ihrer Krieger am Grabe Klekih-petras trauernden Apachen gefangen zu nehmen. Nur Nscho-tschi gelingt die Flucht. Die beiden zuvor zeitgleich gezeigten Handlungsstränge laufen im Moment der Gefangennahme wieder zusammen. Ein kluger Schachzug des Regisseurs, der den gesamten Ablauf deutlich beschleunigt. Mit steigendem Unbehagen verfolgen die Westmänner den Abzug der Kiowas mit ihren Gefangenen. Ob die Kiowas sich an die Vereinbarung, das Leben der Apachen zu schonen halten werden? Erneut wechselt die Szene und verwöhnt den Zuschauer mit einem weiteren humorvollen Auftritt des unglücklichen Will Parkers und dem ständig unter dessen Tollpatschigkeit leidenden Dick Stone.
Wieder folgt ein schneller Wechsel und der Blick fällt auf ein sich in der Mitte der Arena regelrecht entfaltendes Lager der Kiowa. Dorthin führt Pida seine Gefangenen. Überrascht und stolz empfängt ihn sein Vater Tangua, der Häuptling der Kiowa. Es fällt Harald P. Wieczorek zu, diese für ihn somit dritte Rolle in der Aufführung auszufüllen. Mit seinem Auftritt ist das Kontrastprogramm auch farblich komplett: das dunkel gekleidete Kiowa Vater-Sohn-Gespann und das hell gekleidete Pendant auf der Seite der Apachen. Das Gefühl des Triumpfes weicht jedoch Ernüchterung als Pida erkennen muss, dass sein ehrloser Vater nicht daran denkt das Leben der Apachen zu verschonen. Gehässig und unversöhnlich verurteilt er die Zusagen des eigenen Sohnes und bezichtigt ihn der Schwäche. Widerwillig schließt sich Pida einer Ratssitzung der Ältesten des Stammes an. Zwei Herzen schlagen in Pidas Brust und in ihm tobt ein Gewissenskonflikt. Sascha Hödl gelingt es auch in dieser Szene, die unterschiedlichen Gefühle perfekt auszuspielen. Eben noch präsentiert er stolz die erbeutete Silberbüchse, bedroht Winnetou mit Marterqualen und zeigt sich dann von der Haltung des eigenen Vaters tief enttäuscht. Wieczoreks Mimik ist beeindruckend. Mit einem fanatischen Funkeln in den aufgerissenen Augen steigert er sich in Hasstiraden gegen seine Erzfeinde und den vermeintlich schwachen Sohn. Der Abgang der Kiowas vermischt sich fließend mit dem Auftritt von Sam Hawkens und Old Shatterhand, die den Wortbruch der Kiowas mitverfolgt haben. Kaum haben sie die Fesseln der Gefangenen durchtrennt, überrumpeln diese ihre Feinde als sie wieder aus den Tipis hervortreten. Zeitgleich kommen die Krieger der Apachen ihrem Häuptling zu Hilfe. Es kommt zu einem kurzen, aber heftigen Kampf. Das erste Opfer sind überraschend die großen Zelte. Mit Seilen werden diese von den Angreifern umgerissen und dann aus der Arena geschliffen, während zeitgleich alle Kämpfer dieselbe verlassen. So schnell ist am Kalkberg wohl noch nie eine Szene samt Kulisse abgeräumt worden.
Schlag auf Schlag geht es weiter. Schon befinden wir uns wieder im Eisenbahnlager. Eben noch hat Santer im Gefühl der Überlegenheit dem Handlanger Rattler eine fette Zigarre angeboten, da reiten Old Shatterhand und Sam Hawkens in das Lager ein und warnen vor einem bevorstehenden Überfall. Die Verteidigung organisierend und die Arbeiter beschwörend, keine tödlichen Schüsse abzufeuern, versucht Old Shatterhand das Schlimmste zu verhindern. Santer hingegen lobt großzügige Abschussprämien für jeden getöteten Angreifer aus. Doch bei aller Bereitschaft zur Verteidigung: dem folgenden Angriff hält die Verteidigung nicht stand. Santer und dem Kleeblatt gelingt die Flucht, Old Shatterhand geht von Winnetou in einem kurzen, aber heftigen Kampf schwer verletzt zu Boden. „Wo bist du, Santer?“ schreit der ebenfalls gefangene Rattler hervor während ihn die Apachen in die Gefangenschaft führen. Regisseur König zieht alle Register. Der Angriff wird aus allen Richtungen ausgeführt. Wo eben noch die Angreifer auf ihren Pferden heranstürmten, rollt nur Sekunden später ein brennender Planwagen durch die Arena, stürzt ein Mann brennend nieder, explodieren Pulverkisten und stürzen Getroffene von Gebäuden herab. In dieser Schlussszene des ersten Akts können sich erneut Alexander Klaws, Bastian Semm und Dustin Semmelrogge als sportliche, kämpferische und einsatzfreudige Darsteller beweisen. So endet eine actiongeladene, aber auch emotionale erste Hälfte der neuen Aufführung.
Text: Andreas Hardt