Momentan scheint es egal zu sein, was in der Welt los ist. Ob Corona, Krieg in der Ukraine, Preissteigerungen auf allen Ebenen. Die Besucher strömen trotzdem oder vielleicht auch gerade deswegen, in das Freilichttheater am Kalkberg.
Bereits zum neunten Mal in Folge konnte die Geschäftsführerin der Kalkberg GmbH, Ute Thienel, am Ende der letzten Vorstellung einen Besucher-Rekord vermelden. Dieses Jahr sahen unglaubliche 430.321 Besucher den Beginn der Freundschaft zwischen Winnetou und Old Shatterhand. Das sind nochmal ca. 14.000 mehr als im letzten Jahr, wo man schon dachte, dass es kaum noch mehr werden könnten. Das bedeutet einen Durchschnitt von 5.977 Besuchern pro Vorstellung. Zum Vergleich: in den ersten Jahren der Karl-May-Spiele besuchten 6.560 (1952) und 4.507 (1953) die Vorstellungen. Wobei man bedenke, dass allein im ersten Jahr lediglich 15 Vorstellungen aufgeführt wurden. Damals allerdings noch vor deutlich größeren Zuschauerrängen.
Die Kalkberg GmbH um Frau Thienel, Mediensprecher und Textautor Michael Stamp, dem neuen Regisseur Nicolas König, Spielleiter Stefan Tietgen und vielen Ungenannten vor und hinter der Bühne, an den Verkaufsständen und was noch dazu gehört, scheinen aktuell fast nichts falsch machen zu können. Es läuft wie nie zuvor.
Seit 2013 haben es die Verantwortlichen jedes Jahr geschafft etwas Außergewöhnliches auf die Beine zu stellen. Mal mit stärkeren Gaststars, mal mit hervorstechenden Hauptdarstellern aus der vermeintlichen „zweiten Reihe“. Das eine Jahr sticht eher die gesamte Handlung hervor und im nächsten Jahr überdeutlich die Komik, die Jung und Alt gleichermaßen begeistert.
In diesem Jahr scheint alles gestimmt zu haben. Der neue Regisseur, Nicolas König, hat mit seinem Inszenierungsstil die Akteure und das Publikum mitgerissen. Im Vergleich zum letzten Jahr war zu sehen, dass die gesamte Bühne, inklusive Mittelring, ausgiebig bespielt wurde. Ihm und Erfolgsautor Michael Stamp ist etwas Großartiges gelungen. Rasante und flüssige Szenenübergänge, Komik auf den Punkt gebracht, gefühlvolle und herzerwärmende Gefühlsmomente ohne falschen Kitsch.
Großartig waren auch die Anfangs- und die Endszene mit Harald P. Wieczorek als Karl May himself. Eine geniale Idee, nicht zu aufdringlich, aber trotzdem wirksam genug, dass auch dem Letzten deutlich geworden sein sollte, dass Karl May Märchen erfunden hat und diese ohne Anspruch daran, die Wirklichkeit nachzustellen, am Kalkberg erzählt werden.
Einen kleinen Wermutstropfen gab es dennoch. Dem einen oder anderen, der keinen Bezug zur RTL Serie „Gute Zeiten, schlechte Zeiten“ hat, stießen die häufigen Anspielungen des Oberschurken Santer, verkörpert von GZSZ-Star Wolfgang Bahro, auf seine TV-Rolle, auf. Manche sind der Meinung, dass der größte von Karl May erdachte Schurke an Glaubwürdigkeit verliert, wenn er die Zuschauer regelmäßig zum Lachen bringt. Dies schien das Publikum jedoch nicht zu stören. Jede Anspielung wurde meistens frenetisch gefeiert.
Ansonsten gab es keine Besetzung, die die Erwartungen nicht erfüllt oder sogar übertroffen hat. Angefangen bei dem zweiten Gaststar Nadine Menz, die uns, aufgrund unserer GZSZ-Unwissenheit, kaum bis gar nicht bekannt war. Sie hat sich schnell in unsere aller Herzen gespielt. Vorbei ist die Zeit, in der der weibliche Hauptpart „nur“ die „Prinzessin in Not“ ist, von den Helden gerettet werden muss und ansonsten wenig zur Handlung beiträgt. Sie gab ihrem Bruder und ihrem Vater contra. Hat mehr als einmal geholfen sie aus brenzligen Situationen zu befreien und scheute auch nicht vor der Konfrontation mit Rattler zurück. Diese Rolle wurde grandios von Dustin Semmelrogge gespielt, der mit seiner Mimik nicht nur den Auftritt seines Vaters aus dem Jahr 2009 in nichts nachsteht.
Nscho-tschis Liebesszene(n) mit Old Shatterhand verkamen, wie schon erwähnt nicht zum Kitsch und wurden nicht selten von Zwischenrufen aus dem Publikum aufgeheitert. Die Zuschauer gingen das ganze Stück über fasziniert mit. Sie litten und freuten sich gemeinsam mit den Figuren auf der Bühne.
An Frau Menz‘ Seite stand ein weiteres „Greenhorn“, Bastian Semm. Dem Old Shatterhand-Darsteller sah man seine Spielfreude ebenfalls an. Gern mehr davon. Vielleicht auch mal in anderer Rolle, wenn z.B. im nächsten Jahr die Figur des Old Shatterhand nicht auf der Bühne in Bad Segeberg auftaucht.
Michael Stamp hat in den letzten Jahrzehnten viele gute und geniale komische Momente erdacht. Mal etwas überdreht, bis hin zum Klamauk, mal seicht und nachdenklich. Das, was er dieses Jahr geschaffen hat, hebt das ganze nochmal auf eine ganz andere Stufe: Das Kleeblatt, welches nach über 20 Jahren endlich wieder am Kalkberg auftrat.
Volker Zack als Sam Hawkens war eine Traumbesetzung. Zusammen mit den ebenso herausragenden Stephan A. Tölle als Dick Stone und Livio Cecini als Will Parker, war er in jeder ihrer Szenen eine Freude. Besonders die „unmögliche Mission“ ist ein Prunkstück der Komik am Kalkberg.
Im letzten Jahr stand Sascha Hödl noch in der zweiten Reihe und hätte in seiner eigentlichen Rolle nur mit wenigen Szenen sein großartiges Können unter Beweis stellen können. Doch als Vertretung für den mehrfach ausgefallenen Alexander „Winnetou“ Klaws lieferte er den Beweis, dass er auch episch spielen kann. So wurde ihm die selten zu sehende Rolle des Pida von Michael Stamp auf den Leib geschrieben. Hödl, nunmehr zum Gegenpart Winnetous stilisiert, begeisterte durch mitreißende Zweikämpfe mit Titelhelden, stellte sich gegen seinen Vater Tangua und ließ die Zuschauer an seinen Gedanken, bzw. seiner Zerrissenheit, teilhaben. Er war quasi der „dunkle Winnetou“.
Auf der anderen Seite, der hellen Seite, verkörperte wie zuletzt Alexander Klaws den Winnetou. Als noch junger Häuptlingssohn der Apachen hatte er dieses Jahr deutlich mehr Möglichkeiten die verschiedensten Facetten zu zeigen, was er auch genutzt hat. Im Vergleich zu letztem Jahr war das eine deutliche Schippe obendrauf.
Mühe seinen Sohn zu zügeln hatte Joshy Peters als Intschu-tschuna. Auch wenn er diese Figur bereits 2007 verkörpert hatte, ist der oberste Häuptling der Apachen in diesem Jahr doch ein anderer gewesen. Herausstechend war seine Schlussszene, in der er zuerst versucht seine Tochter zu retten in dem er das Versteck des Goldes preisgibt, um dann in der nächsten Szene, tödlich getroffen, zu seiner, ebenfalls niedergeschossenen Tochter zu kriechen, um nach ihr zu sehen. Herzzerreißend. Er war dieses Jahr nicht nur der Häuptling der Apachen, sondern ist DIE Legende am Kalkberg.
Ob es im nächsten Jahr wieder einen Rekord geben wird, kann man natürlich heute noch nicht sagen. Ist dieses Ergebnis überhaupt noch zu steigern? Ok, das haben viele, wenn nicht alle, auch in den letzten Jahren und gerade nach der schweren Corona-Zeit gesagt.
Der Grundstein dafür wurde von der Kalkberg GmbH bereits gelegt. Auch 2024 wird Alexander Klaws durch den Sand inmitten von Bad Segeberg reiten. In seinem dann vierten Jahr als Winnetou kämpft er in „Winnetou II – Ribanna und Old Firehand“. Wir hoffen, dass der eine oder andere Schauspieler und Schauspielerin dann ebenfalls wieder zum Ensemble gehört.
Inszeniert wird das Stück erneut von Nicolas König.
Es ist schön, dass jetzt erstmal etwas Ruhe einkehrt. Auf der Bühne, dahinter, in der Stadt und überall bei denen, die mit diesem „vielleicht schönsten Theater der Welt“ (O-Ton Nicolas König) in Verbindung stehen.
Bis nächstes Jahr, wenn es dann heißt „Willkommen in den Jagdgründen der Apachen, Assineboins und Poncas. Willkommen im Freilichttheater am Kalkberg“.
Euer
WWR Sven
den offiziellen Pressebericht der Karl-May-Spiele findet ihr hier: Saisonabschluss 2023