„Ich empfehle ihnen, sich nicht in die erste oder zweite Reihe zu setzen, denn wir spielen im Breitwandformat!“ Mit diesen Worten begrüßte Pressesprecher und Hausautor Michael Stamp die versammelte Gruppe von Journalisten zur heutigen Pressevorstellung.
Wie in den Vorjahren wurde den Vertretern aller Mediengruppen auch diesmal eine Woche vor der Premiere ein Eindruck von der neuen Produktion durch Darstellung verschiedener Szenen vermittelt. Bei angenehmen 18 Grad und bewölktem Himmel präsentierte Geschäftsführerin Ute Thienel nicht nur den neuen Regisseur Nicolas König, sondern gab auch einen Einblick in die Zahlenwelt der Kalkberg GmbH. Mit einem Gesamtbudget von 6,2 Millionen Euro musste mal wohl auch hier den allgemeinen Teuerungseffekten Rechnung tragen (zur Information: das Budget 2022 lag bei 5,8 Millionen Euro). Allein 500.000 Euro wurden in neue Veranstaltungstechnik investiert. Hiernach übergab Frau Thienel die weitere Moderation an Regisseur und Publikumsliebling Nicolas König.
König, der dem langjährigen Publikum aus verschiedensten Rollen seit 1992 bekannt ist, führte alsdann humorvoll und konzentriert durch die von ihm inszenierten Szenen. Er lobte die sehr gute Zusammenarbeit mit Spielleiter Stefan Tietgen, Autor Michael Stamp und Inspizient Marc Francisco. Damit ist im Grunde auch bereits die wahrgenommene Grundstimmung des Tages beschrieben: stimmig, griffig, miteinander und harmonisch im Zusammenspiel. Doch der Reihe nach.
Rund ein Drittel der fertigen Inszenierung wurde den Pressevertretern vorgestellt. Die Szenen wurden in loser Reihenfolge vorgeführt. In der ersten gespielten Szene lernten wir das „Kleeblatt“, d.h. die drei Westmänner Sam Hawkens, Dick Stone und Will Parker kennen. Allerdings nicht als Gruppe sondern mit jeweils eigenen Auftritten. Überraschend aber nachdrücklich: keiner der Dreien drohte damit in der Gruppe unterzugehen sondern erhielt die Gelegenheit, sich individuell dem Publikum vorzustellen. Bereits ein Vorgeschmack auf eine neue Art der Inszenierung am Kalkberg. Als erster durfte sich Dick Stone alias Stephan A. Tölle präsentieren, der mit einem Planwagen in das Eisenbahnerlager einfuhr. Anschließend folgte Will Parker, Neuzugang Livio Cecini, als Begleiter der einfahrenden Lokomotive und zuletzt Volker Zack als Sam Hawkens nebst Old Shatterhand gespielt von Bastian Semm. Bis auf Tölle alles neue Gesichter am Kalkberg. Doch sofort wird klar, dass sich hier ein perfektes Trio mit einem überzeugenden Greenhorn gefunden hat. Die Kostüme des Kleeblatts sind stimmig wie selten. Optisch wurden sie wohl an die Schnittmuster von Irms Pauli für den Rialto Film Winnetou I angelehnt. Der dargebotene Humor ist dezent und wirkt, getragen von den May-gerechten Figuren, überzeugend unterhaltsam. Volker Zack gefällt durch eine ernsthafte Interpretation des alten listigen Westmanns, der trotzdem auch eifrige Heiterkeit ausstrahlen kann. Diese Darstellung der drei Westmänner könnte die gelungenste seit Jahrzehnten sein. Doch dazu später noch mehr.
Der neue „Scharlih“ am Kalkberg ist der Freilichttheater erprobte Bastian Semm. Nach langen Jahren auf der Bühne in Rügen als Kultpirat, darf er nun den Henry-Stutzen schultern. Duplizität der Ereignisse: auch bei den Störtebeker Festspielen auf Rügen war er der Nachfolger des Schauspielers Sascha Gluth. Genau wie auf Rügen braucht der sympathische Darsteller aber auch keinen Vergleich zu scheuen. Dynamisch, mit kräftiger Stimme und klarer Aussprache gefiel Semm nicht nur der Optik wegen. Auch in den folgenden Momenten konnte er durch Agilität im Zweikampf und Akzentuierung der romantischen Augenblicke gefallen. Vielleicht hat der Kalkberg hier endlich einen würdigen Nachfolger für den langjährigen Old Shatterhand-Darsteller und Publikumsliebling Joshy Peters gefunden. Überraschend war lediglich, dass Shatterhand-Semm bereits im ersten Auftritt das Wildlederkostüm trug. Wir können natürlich nicht ausschließen, dass er dieses in einer früheren Szene ausgehändigt bekam – man wird sehen.
Als sei das nicht genug erscheinen in der ersten gezeigten Szene auch Oberschurke Santer alias Wolfgang Bahro und sein Handlanger Rattler, gespielt von Dustin Semmelrogge. Santer, der auch in diesem Jahr von Hausautor Michael Stamp als Edelschurke konzipiert wurde, lässt sich standesgemäß in einer Kutsche auf die Bühne fahren. Semmelrogge erfüllt in seinem Auftritt die Rolle des brutalen und grobschlächtigen Handlangers. Es mag an der Interpretation der Figuren liegen, dass Semmelrogge dabei einen stärkeren Eindruck hinterließ als sein Bühnen-Boss. Auch hier dürfen wir uns von den weiteren Eindrücken überraschen lassen. Insgesamt wurde damit in nur einer Szene das halbe Ensemble dem Publikum in Person und Rolle vorgestellt und die „Fronten“ zwischen den Parteien deutlich gemacht.
Nach einer erläuternden Überleitung durch Nicolas König durfte Winnetou, wie im Vorjahr von Alexander Klaws verkörpert, seinen Hut in den Ring werfen. Auf einem Ritt durch die Prärie kommt es zu einer schicksalhaften Begegnung mit Kiowa Unterhäuptling Pida (verkörpert von einem gewohnt sehr einsatzfreudigen und motivierten Sascha Hödl), der den Apachen zum Zweikampf auffordert. Das Handgemenge mit wechselnden Gegnern ist rasant inszeniert und wird von Klaws dynamisch mit großem Einsatz absolviert. Lediglich der abschließende Tritt in die Kronjuwelen eines unbekannten Kiowa wirkt ein wenig deplatziert. Unser Mitleid gilt dem geschundenen Krieger. Überraschend wird die drohende Gefangennahme des Apachen durch den beherzten Auftritt seiner Schwester Nscho-tschi (noch ein Neuling: Nadine Menz) verhindert. Der im Vorfeld formulierte Vorsatz, eine emanzipiertere Interpretation der Häuptlingstochter zu liefern, wird hier in die Tat umgesetzt ohne dabei übertrieben zu wirken. Nadine Menz spielt glaubwürdig eine Schwester auf Augenhöhe zu dem berühmten Bruder. Gelegentlich ist ihr Sprechtempo spürbar schneller als das des Bruders und des Vaters. Manchmal ist weniger mehr. Aber dies kann auch einer gewissen Nervosität zugeschrieben werden. Optisch bilden Menz und Klaws ein schönes harmonisches Geschwisterpaar.
Im dritten Bild kommt es zu einer Premiere in der mittlerweile 70-jährigen Geschichte der Karl-May-Spiele. Wir sehen den Stamm der Kiowa, die mitten in der Prärie ein Lager aufschlagen. Blitzschnell werden zwei große Tipis errichtet (nach Aussage von Inspizient Marc Francisco jeweils 60 Kilo schwer), sowie die Gefangenen Winnetou und dessen Vater Intschu-tschuna (dargestellt von Kalkberg-Legende Joshy Peters) an die Marterpfähle gebunden. Häuptlingssohn Pida präsentiert voller Stolz seinem Vater Tangua (gespielt von Harald P. Wieczorek) die gefangenen berühmten Apachen. Aber bereits zu diesem Zeitpunkt wird klar, dass Pida eine andere Ehrauffassung als der verbitterte alte Vater besitzt. Apachenhäuptling Intschu-tschuna steht im klaren Kontrast zu Kiowahäuptling Tangua. Somit zeichnet sich in beiden Stämmen ein Generationenkonflikt ganz unterschiedlicher Art ab. Die Tatsache, dass der Figur Pida erstaunlich viel Raum in dieser Inszenierung eingeräumt wird, ist der Kreativität von Hausautor Stamp zu verdanken, der ganz bewusst die besonderen Beziehungen sowohl der Häuptlingssöhne zueinander als auch der Söhne zu den Vätern herausarbeiten will. Die Szene mündet in der Befreiung der beiden Apachen durch Old Shatterhand und Sam Hawkens. Kaum ist dies geschehen, entreißen Winnetou und Intschu-tschuna den Wachen ihre Waffen und aus dem Nichts heraus stürzen sich die von Nscho-tschi (!) herbei geholten Apachen auf das Lager. Diese vertreiben die Kiowa und reißen die Zelte effektvoll mit lassowürfen nieder und schleifen sie effektvoll von Reitern aus der Arena. Auf diese Art ist wohl noch nie ein Bild am Kalkberg aufgelöst worden. Ein weiteres Merkmal für die Absicht des neuen Regisseurs mit mehr Tempo und Geschwindigkeit Übergänge zu inszenieren. Auf Nachfrage erfuhren wir, dass die Idee hierzu tatsächlich von König selbst stammt, die passende Platzierung in die Handlung dann aber gemeinsam mit Autor Stamp erarbeitet wurde.
Direkt im Anschluss wurde der Überfall der Apachen auf das Eisenbahner Camp gespielt. Allen Warnungen von Old Shatterhand und Sam Hawkens zum Trotz bereiten sich die Eisenbahner nicht wirklich auf den bevorstehenden Angriff vor. Rattler (Dustin Semmelrogge) und Santer (Wolfgang Bahro) schlagen die Warnungen in den Wind und es werden Prämien für jeden erschossenen Angreifer ausgelobt. Die Empörung Old Shatterhands geht im Angriff der Apachen unter. Es kommt zu dem bekannten Zweikampf zwischen Winnetou und Old Shatterhand bei der der junge Westmann schwer verletzt wird. Hier allerdings nicht buchkonform durch einen Stich in den Hals, sondern in den Magen. Die Szene wird durch eine humoristische Einlage von Dick Stone und Will Parker erheiternd ergänzt. Tölle und Cecini können auch hier in der Kürze der Einlage gefallen. Allerdings kommt es auch zu verschiedenen Anspielungen auf die RTL Tätigkeit von Hauptdarsteller Wolfgang Bahro – diesen Seitenhieb konnte man sich einfach nicht verkneifen.
Als un- und außergewöhnlich darf die anschließend gezeigte Szene gewertet werden. Weil Sam Hawkens in einem Zelt gefangen gehalten wird, planen Dick Stone und Will Parker dessen Befreiung. Während Will Parker seinen Plan erläutert, sehen wir diesen im Hintergrund in der Umsetzung. Das bedeutet, dass die geschilderte Handlung von Doubles in entsprechenden Kostümen ausgespielt wird. Und so taucht zum Schluss der befreite Sam Hawkens hinter den beiden Kameraden auf. Lassen wir die Szene einfach ohne Anspruch von Logik ablaufen und genießen die wirklich überraschend lustige und erfrischende Darstellung der nur schwer zu beschreibenden Szene. Man muss es einfach gesehen haben! Einer der schönsten Humormomente am Kalkberg seit vielen Jahren!
Die letzten beiden direkt aufeinander folgenden Szenen sind von purer Emotion geprägt. Den Anfang macht die Darstellung der Blutsbrüderschaft mit einem Tanz. Dieser wirkte im Gegensatz zu früheren Jahren folkloristisch und bar jeder modernen Hitvorlage. Auffällig dabei auch der Einsatz der kompletten Komparserie, respektive des gesamten Stamms der Apachen. Hier wurde erneut „großes Kino“ gespielt. Untermalt von passender Musik (dies gilt im Übrigen für alle gezeigten Szenen) inszeniert Häuptling Intschu-tschuna (starker Moment für Joshy Peters) die Zeremonie. Semm und Klaws bilden ein unglaublich passendes Duo voller Ernsthaftigkeit und Würde. Ein Fotomoment für die Ewigkeit. Direkt im Anschluss folgt der nächste große Blutsbrüdermoment als Winnetou seinem Blutsbruder den Rappen „Hatatitla“ schenkt.
Während die beiden davonreiten, bleibt im Übergang zum nächsten und letzten Bild des Tages, die junge Nscho-tschi (Nadine Menz) nachdenklich und im Zwiespalt ihrer Gefühle im Zentrum der Bühne zurück. Auch hier nutzt Regisseur König die gesamte Arena aus. Während Old Shatterhand vor dem Pueblo Winnetou seine Gefühle für Nscho-tschi offenbart, verbleibt diese auf einem zentral angesiedelten Felsen. In der Folge eilt Old Shatterhand zu ihr, gesteht ihr seine Liebe und es kommt zum unvermeidbaren publikumswirksamen Kuss. Ein Moment voller Emotion und Zuneigung, liebevoll und fast spielerisch von Nadine Menz und Bastian Semm interpretiert. Diesem Paar werden die Herzen der Zuschauer zufliegen!
So viel gesehen und doch können wir nur vieles erahnen. Das umfangreiche Bühnenbild verspricht noch manche Überraschung. Denn einige Elemente wurden gar bespielt und sind somit Anlass für Spekulationen über die sonstige Handlung. Die „Neulinge“ boten eine erfrischend neue Darstellung und wurden eingerahmt von Kalkberg erfahrenen Mimen. Hinsichtlich des „Kleeblatts“, der Blutsbrüder und der Romanze zwischen Old Shatterhand und Nscho-tschi sind wir sicher, künftige Publikumslieblinge gesehen zu haben. Der Stil der Inszenierung wirkt schwungvoll und wird von einem Regisseur verantwortet der selbst umfangreicheiche Erfahrungen auf dieser Bühne sammeln konnte. Die Musikeinspielungen bilden eine gelungene Kombination aus gewohnten Melodien und neuen Titeln.
Die Vorfreude auf die Premiere ist bei uns um ein Vielfaches höher, als nach den Eindrücken der Vorjahres Pressevorstellung und wir hoffen auf einen gelungenen Premierenabend bei bestem Wetter. Nach Lage der Dinge ist das Rezept für eine erfolgreiche Saison gefunden.