Karl May entführt seine Leser regelmäßig in die verschiedensten Ecken der beiden amerikanischen Kontinente. Von Feuerland bis zu den schneebedeckten Gipfeln der Rocky Mountains, von Kalifornien bis zu den Neuenglandstaaten, von fiktiven einsamen Siedlungen in der Prärie bis hin zu den damaligen Metropolen New Orleans und New York – Karl Mays Helden sind überall zu Hause. In diesem Jahr wird einer der am seltensten adaptierten Romane Karl Mays in Bad Segeberg aufgeführt: „Winnetou und das Geheimnis der Felsenburg“. Ähnlich wie bereits der legendäre Horst Wendland entschied sich auch die Geschäftsleitung am Kalkberg dafür, den eher unbekannten Buchtitel „Die Felsenburg“ mit dem Namen des zugkräftigen Häuptlings der Apachen zu kombinieren. Auch dem eher wenig mit Karl May vertrauten Besucher sollte klar sein, dass man den geliebten Helden in der Geschichte erwarten darf. Doch wo spielt diese eigentlich? Im nordwestlichen Mexiko, genauer gesagt in der Grenzregion Sonora. Es handelt sich um eine karge wüstenähnliche Landschaft, die immer wieder durchzogen ist von Canyons, Tälern und steil aufragenden Felsmassiven und Dornstrauchsteppen. Zur Einstimmung auf die diesjährige Aufführung ist es lohnenswert, sich mit dieser von Karl May gewählten Umgebung genauer zu befassen.
Wie man der beigefügten Karte entnehmen kann, wird die Provinz Sonora im Westen vom Golf von Kalifornien begrenzt und im Norden von der Grenze zu den Vereinigten Staaten von Amerika. Jenseits der Grenze liegt der US-Bundesstaat Arizona. Im Osten der Sonora liegt die mexikanische Nachbarprovinz Chihuaha. Südlich schließt sich die kleine Küstenprovinz Sinaloa an. Die Provinz Sonora (rund 183.000 qkm) wird heute von lediglich 1 Million Menschen bewohnt. In unseren Tagen ist die Provinz (Hauptstadt Hermosillo) eine von insgesamt 32 Provinzen der Republik Mexiko. An der Westküste der Sonora befanden sich auch Mitte des 19. Jahrhunderts bereits einige Hafenstädte wie La Libertad und Guaymas. Die damalige Bevölkerung stellte eine bunte Mischung aus Indianern, Mischlingen, Abkömmlingen der spanischen Konquistadoren und sonstigen zugewanderten Glücksrittern dar. Die Landbevölkerung fristete ein karges Dasein mit dem Anbau von Mais, Baumwolle, Tabak und verschiedenen Gemüsesorten. International bekannt war damals wie heute der rote Chili-Pfeffer. In der gesamten Sonora-Region wurde schon sehr früh unterschiedlichster Bergbau betrieben. Kupfer, Graphit, Blei und Zink stellen und stellten die größten Vorkommen dar. Aber auch kleinere Gold- und Silberminen wurden bereits seit den Zeiten der spanischen Eroberer ausgebeutet. Im Gegensatz zu Karl Mays Behauptung finden sich größere Quecksilbervorkommen jedoch erst in Texas. Zumeist in West-Ost-Richtung fließt der Rio Sonora bis zum Golf von Kalifornien. Die übrigen größeren Flüsse liegen meist im Ostteil der Provinz und verlaufen in Nord-Süd-Richtung. Mitte des 19. Jahrhunderts handelt es sich bei den Siedlungen der Sonora durchweg um kleine und bis heute eher unbedeutende Städte. Die Abenteuer rund um „Die Felsenburg“ verfasste Karl May in Form einer Trilogie. Im ersten Band „Satan und Ischariot“ trifft Old Shatterhand in Guaymas nach einem harten Marsch durch die Wüste in einem eher derangierten Zustand ein und begegnet früh seinem Gegenspieler Harry Melton. Um dem geheimnisvollen Treiben Meltons auf die Schliche zu kommen und um deutschen Auswanderer vor einem ungewissen Schicksal zu retten, beschließt Old Shatterhand sich inkognito als Buchhalter anstellen zu lassen. Die ganze Gruppe reist zunächst per Schiff von Guaymas nach Norden bis Lobos. Dort stehen Wagen und Pferde bereit, um die Auswandererfamilien in das Landesinnere zu bringen. Während es Old Shatterhand gelingt, den für die Umgebung verantwortlichen mexikanischen Beamten in Ures aufzusuchen, zieht der Treck der Auswanderer ohne besonderen Aufenthalt nach Osten, zur Hazienda del Arroyo. Nach dem Überfall der Yumas, werden die ahnungslosen Überlebenden noch einige Tagesreisen weiter nach Osten geführt, bis ihre Reise in den finsteren Schächten von Almaden alto endet. Die von Karl May genannten Städte sind noch heute existent. Kleinere, im Laufe der Jahrzehnte stillgelegte Minenanlagen gibt es tatsächlich auf beiden Seiten der Staatsgrenze. Touristen können auch heute noch zahllose Geisterstädte und Minenstandorte besuchen, die in den wilden Zeiten des ein oder anderen Gold- oder Silberrauschs über Nacht aus dem Boden gestampft wurden. Als die Vorkommen erschöpft waren, zogen die Prospektoren, Bergarbeiter und Geschäftsleute weiter. Zurück blieben dann meistens nur die Gebäude als Zeichen des früheren Wohlstands.
Die Sonora war über Jahrzehnte eine rauhe Gegend in der das Faustrecht des Stärkeren galt. Nach dem Anschluß der Republik Texas und der Entsendung einer US-amerikanischen Armee an die Grenze, brach der offene Krieg zwischen Mexiko und den USA aus. Für Mexiko endete der Krieg in einem totalen militärischen Fiasko. Der folgende Friedensschluß definierte den Grenzverlauf völlig neu und brachte der Union erhebliche territoriale Gewinne von rund 217.000 Hektar ein: New Mexiko, Kalifornien, Utah, Nevada, Arizona und sogar noch einen Teil von Colorado. Doch manchem in Washington war das noch nicht genug. Die unterschiedlichen Administrationen der USA blickten immer wieder mit einem begehrlichen Auge auf diese Provinz, die als logische territoriale Ergänzung bei einer künftigen Südexpansion der Union galt. Daher tolerierte man auch das an und für sich illegale Eindringen von Glücksrittern und Kriminellen in die Gebiete der Sonora. Diese semimilitärischen privat organisierten und finanzierten Eindringlinge erlangten unter der Bezeichnung Filibuster eine traurige Berühmtheit. Über viele Jahre hinweg tobte ein regelrechter Kleinkrieg in der Sonora. Denn die Einwohner der Provinz widersetzten sich mit Gewalt der Ausbeutung und Unterdrückung. So erlangte die Provinz den zweifelhaften Ruf als „Friedhof der Filibuster“. Ohne Unterstützung durch eine zentrale Regierung kämpften die Einwohner um ihre Freiheit und ihre Rechte. Die Maysche Darstellung des Durchschnittsmexikaners als eher unbeholfene und arbeitsscheue Menschen mag hierzu nicht passen. Die Kriegszüge der Filibuster nahmen in den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts kontinuierlich ab. Hierzu trug nicht nur der militärische Widerstand der Sonorenser bei sondern die zunehmende Öffnung des mexikanischen Markts für nordamerikanische Unternehmen bei – eine Eroberung war kaufmännisch nicht mehr sinnvoll. Heute rückt die Provinz in ein ganz neues Licht. Sollte sich der Wille des aktuellen US Präsidenten im Bau einer gewaltigen Grenzmauer manifestieren, so würde diese entlang der Nordgrenze der Sonora verlaufen. Die Provinz fürchtet schon lange kein illegales Eindringen von der US Seite – wohl besteht die Sorge jedoch umgekehrt. Welche Konsequenzen die von Präsident Trump vorgesehene Abschottung für die Sonora hat ist kaum vorhersagbar. Was bleibt also von der Sonora? Der Hauch von Abenteuer! Reale und erfundene!
Text: Andreas Hardt
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