Die Antwort liegt in der Geschichte hinter der Geschichte…
„Schnauze!“ – es braucht nur dieses eine eiskalt hervorgestoßene Wort und dem Zuschauer ist klar: hier steht ein ganz besonderer Mann in der Arena am Fuße des Kalkbergs. Wenn auch Karl May den teuflischen Schurken Harry Melton ganz anders beschrieben hat als ihn Bühnenautor Michael Stamp adaptierte, so verleiht Jochen Horst der Figur eine ganz eigene und faszinierende Qualität. Eben urteilt er noch voller Sarkasmus über die vermeintliche Brutalität der Indianer, dann tröstet er die trauernde Judith mit Worten voller Wärme und Verständnis. Vom personellen Notnagel zum faszinierenden Mittelpunkt der diesjährigen Aufführung: Jochen Horst, ein absoluter Besetzungs-Glücksfall für die Karl May Spiele Bad Segeberg. In einem längeren Gespräch durften wir einen Schauspieler mit klaren Vorstellungen und eigener Interpretation des von ihm zu verkörpernden Charakters erleben.
WWR: Jochen Horst, es ist seit Mitte der neunziger Jahre fester Bestandteil der Segeberger Karl May Spiele, bekannte Schauspielerinnen und Schauspieler zu verpflichten. Aber in diesem Jahr wurde uns ursprünglich ja ein ganz anderer Darsteller präsentiert und plötzlich wurde sehr kurzfristig umdisponiert. Was war ihr erster Gedanke als man sie kontaktierte?
JH: So kurzfristig war das eigentlich gar nicht. Denn tatsächlich lag mir im Januar bereits eine Anfrage vor, ob ich mir ein Engagement hier in Bad Segeberg vorstellen könnte. Ich habe dies bejaht, meine Termine sortiert um verfügbar zu sein und wartete das Weitere ab. Leider kam dann aber die Nachricht, man habe sich für einen anderen Kollegen entschieden.
WWR: War das nicht enttäuschend?
JH: Ich besitze da keine Eitelkeiten. In meinem Beruf passiert es oft, dass man angefragt wird und dann eine Absage erhält. Die zweite Anfrage erreichte mich dann im April in Dresden, wo ich gerade Theater spielte. Ich habe mich natürlich sehr gefreut und habe dafür auch eine andere vorliegende Anfrage abgesagt.
WWR: Sie wohnen und leben abwechselnd in Berlin und Hamburg. Da könnte man vermuten, die Bühne hier wäre ihnen bereits bekannt gewesen.
JH: Tatsächlich war mir der Bedeutung der Bühne nicht aus eigenen Besuchen sondern aus Erzählungen vieler Kollegen, die hier bereits gespielt haben bzw. es gerne wollen, bekannt.
WWR: Also waren sie nie hier – auch nicht der Kinder wegen?
JH: (schmunzelt) Mein Sohn hat in den Jahren immer wieder mal mitbekommen, dass ich angefragt und dann doch nicht besetzt wurde. Irgendwann hat er gesagt: solange die dich nicht nehmen fahren wir da nicht hin. Deshalb fuhren wir eigentlich öfter zu den Störtebeker Spielen auf Rügen.
WWR: Ist das ihr erstes Engagement unter freien Himmel?
JH: Eigentlich ja. Es gab nur einen kleinen „Ausrutscher“ in meiner sehr frühen Phase. (lacht) Ich war jung und brauchte das Geld!
WWR: Ist die Aussicht auch auf schlechtes Wetter und die dann entstehenden Verletzungsgefahren für sie ein Grund zur Besorgnis?
JH: Wenn dem so wär dann dürfte ich hier gar nicht auftreten. Die Frage wird mir dieser Tage öfter gestellt. In dem Moment wo ich kurz vor dem Auftritt stehe, sind mir die Rahmenbedingungen völlig gleichgültig.
WWR: Aber hier passiert so vieles was nicht planbar ist…
JG: Beim Film passieren auch Pannen und Unfälle. Vor Jahren bekam ich einen Brandsatz in den Rücken – das war auch nicht geplant. Dieses Risiko ist also nicht auf Theater reduziert.
WWR: Sie spielen ja sehr viel Theater. Geben sie der Bühne den Vorzug gegenüber dem Film?
JH: Theaterspielen gibt mir mehr Möglichkeiten. Das Filmen ist immer sehr reduziert weil auch der Zeitrahmen sehr eng gesteckt ist. Ich probiere sehr gerne Dinge aus. Der Auftritt vor der Kamera ist etwas Finales und Unabänderbares. Im Theater verläuft jede Vorstellung etwas anders. Ich versuche imme,r etwas Neues auszuprobieren. Das ist für die Kollegen nicht immer ganz einfach.
WWR: Wo liegt bei diesem Engagement die größte Herausforderung für sie?
JH: In der Rolle selbst! Alles andere sind Rahmenbedingungen.
WWR: Karl May hat die Figur des Harry Melton sehr charismatisch angelegt, wie eine Mischung aus Engel und Teufel…
JH: Wirklich? Das wusste ich gar nicht. Aber genauso habe ich beim Lesen des Textbuchs die Figur interpretiert. Ich versuche BÖSE so zu spielen, dass der Zuschauer es interpretieren kann. Mein Vater war Strafverteidiger, da ist mir aus seinen Erzählungen ein Umstand sehr früh klar geworden: jede Geschichte hat zwei Seiten, zu jedem Mord gehört auch eine Rechtfertigung – in welcher Form auch immer. Mit so etwas bin ich groß geworden. Wenn ich in einer Zeitung von einem Ereignis lese, dann frage ich mich sofort: ist es wirklich so geschehen? Gibt einen unerwähnten aber wichtigen Aspekt? Und genauso wünsche ich mir die Reaktion der Zuschauer auf meine Darstellung von Harry Melton. Ich habe diesen Anspruch, die Zuschauer sollen über das was ich tue nachdenken.
WWR: Nun haben sie ein Pendant in der Rolle der Judith – eine der wenigen markanten und dann auch noch finsteren weiblichen Charaktere aus den Werken Karl Mays. Wie würden sie das Verhältnis von Judith zu Harry Melton beschreiben.
JH: Die Antwort liegt in der Geschichte hinter der Geschichte. Judith hat vor ihrem ersten Aufenthalt in Amerika bereits mit Hermann eine Beziehung gehabt. Aber sie hat in Amerika eine Veränderung erfahren, neue und andere Werte für sich entdeckt. Wie sie das spielt und verkörpert liegt ganz bei Christine (Neubauer – Anm.d.Autoren). Harry Melton ist ein Mann der keinen Partner und auch keine Partnerin braucht. Es handelt sich also um ein reines Zweckbündnis.
WWR: Ist dies ihre erste große Schurkenrolle? Im Fernsehen haben wir sie meistens bei der Verkörperung freundlicherer Charaktere wahrgenommen.
JH: Ich bin ja schon fast 40 Jahre im Geschäft, da habe ich wohl jeden vorstellbaren Charakterzug ausgespielt. Aber immer so, dass der Zuschauer es auch verstehen und nachvollziehen kann.
WWR: Sie sind Familienvater. Spielen die Geschichten und die Helden Karl Mays in der heutigen Kinder- und Jugendwelt noch eine Rolle?
JH: Das kann ich leider nicht sagen. Mein Sohn geht auf eine englische Schule, da kennt niemand Karl May. Dort sind es die klassischen angloamerikanischen Autoren wie Shakespeare oder Hemingway die gelesen werden. Was aber mit Sicherheit immer noch Bestand hat, sind die Werte für die Winnetou und Old Shatterhand stehen. Die sind nicht ausgestorben und die werden auch nicht aussterben. Das klingt vielleicht etwas traditionell und unmodern aber wo haben wir denn heute noch die Möglichkeit, solche Werte zu vermitteln? Wo steht denn noch jemand auf und sagt „Das Lächeln eines Kindes zählt mehr als das kalte Metall des Goldes.“ Zyniker mögen darüber lachen aber wenn ein Besucher über diesen Satz nachdenkend das Theater verlässt dann haben wir etwas erreicht. Dann hat das Werk Karl Mays unverändert seine Berechtigung.
WWR: Wir leben ja nun in einer zunehmend digitalisierten Welt. Viele Kinder erleben diese Welt nur noch am Bildschirm. Dies zu begleiten ist nicht einfach. Wie gehen sie in ihrer Familie mit dem Medienkonsum um?
JH: Mit strikten Regeln. Mein Sohn ist jetzt 14 Jahre alt. Er darf jeweils eine Stunde am Tag mit dem Smartphone und Laptop verbringen. Es sei denn er muss die Medien für die Schule benutzen. An dem Punkt muss ich ihm vertrauen und tue das auch. Zu unserer Zeit gab es andere technischen Verführungen. Das waren Spielautomaten und Konsolen. Aber für die musste man bezahlen, heute ist der Verwendung der angeschafften Geräte für die Kinder im Grunde umsonst. Die Sucht nach dem technisch Neuen und Ungewöhnlichen bestand immer und ich kann sie verstehen. Doch vor ungefähr 4 Jahren bat mein Sohn überraschend um meine Hilfe. „Versuch es mir abzugewöhnen.“ Er merkte also selber, dass er von seinem Computer nicht mehr los kam.
WWR: Es spricht für ihren Sohn, diese Erkenntnis selbst gezogen zu haben und für den Vater, dem er sich so offen anvertraut hat. Strebt eines ihrer Kinder auch danach, Schauspieler/-in zu werden?
JH: Kinder streben häufig danach, in die Fußspuren der Eltern zu treten. Gerade bei meinem Beruf sehen Kinder häufig nur das Spannende, den Spaß, das Abenteuer. Aber sie sehen nicht die Mühe, das Warten auf ein neues Engagement und die Nöte des Alltags. 80 Prozent dieses Berufs besteht aus Warten und Nichtspielen. Diese oberflächliche Begeisterung verliert sich dann oft im Laufe der Jahre.
WWR: Würden sie ihre Kinder unterstützen und bestärken wenn sie trotzdem die Entscheidung für die Schauspielerei treffen würden?
JH: Nur wenn sie Talent haben. Würde es ihnen daran mangeln, würde ich es ihnen offen und ehrlich sagen und von dem Beruf abraten.
WWR: Karl May hat seine Geschichten und Figuren häufig dem damaligen Zeitgeist und Wertedenken entsprechend angelegt und beschrieben. Heute wird viel über Klischees, über Respekt und die Grenze zum Vorurteil diskutiert. Was glauben sie, was ist wichtiger: die Authentizität eines Werkes zu bewahren oder Anpassungen gemäß unserem heutigen Wertedenken vorzunehmen?
JH: Das ist eine sehr gute und sehr berechtigte Frage. Ich glaube schon, dass man gewisse Anpassungen vornehmen muss, um extreme Darstellungen zu vermeiden. Trotzdem kann man dem Gesamtwerk treu bleiben. Klischees müssen nicht unnötig bedient werden.
WWR: Tatsächlich hat Karl May sich ja lange Zeit seines Lebens nicht an den Werten orientiert die er in seinen Werken zum Maßstab allen Handelns macht.
JH: Harry Melton gibt sich gegenüber den Auswanderern ja auch christlich. Ich glaube, er sieht sich auf seine Art sogar tatsächlich als Christ. Selbst wenn er Menschen umbringt.
WWR: Also ist das Kreuz, das sie als Teil des Kostüms tragen nicht nur ihr eigener Teil der Interpretation der Rolle?
JH: Nein, das ist ganz bewusst so gewählt worden. Ich sage ja auch an einigen Stellen „Mit Gottes Hilfe.“ oder „Wir sind Christen. Wir werden sie nicht davonjagen, wir werden nicht Unrecht mit Unrecht vergelten.“
WWR: Vor uns sitzt ein sehr selbstbewusster Mann. Kennen sie eigentlich noch das Gefühl von Lampenfieber?
JH: Dieses Gefühl kannte ich noch nie. Ich bin vor einer Vorstellung immer ein wenig nervös aber solange ich Text habe und ein Gefühl für die Situation besitze, ist alles in Ordnung. Aber schicken sie mich ohne Text einfach so hinaus – das würde mich verunsichern. Wenn ein Theaterstück zusammenbricht oder unterbrochen wird, ich mich in freier Sprache an mein Publikum wenden muss, da bin ich nicht gut drin.
WWR: Kommt das öfter vor?
JH: Gott sei Dank nicht. Abe vor einigen Wochen kollabierte ein Zuschauer bei einer Aufführung in Hamburg. Ich war aber so konzentriert, dass mich erst ein Kollege auf den Umstand aufmerksam machen musste. Die weitere Regelung und Ansprache übernahm dann auch er.
WWR: Gibt es für einen besonderen Moment in der diesjährigen Aufführung der ihnen besonders gefällt?
JH: Tatsächlich lausche ich immer wieder fasziniert dem Schlussdialog von Winnetou und Old Shatterhand und der Botschaft, die sie an unser Publikum richten.
WWR: Lieber Jochen Horst, vielen Dank für das heutige Gespräch und wir wünschen ihnen eine tolle verletzungsfreie Saison am Kalkberg.
ah,mg
Troisdorf, Kiel, Bad Segeberg