Eindrücke und Kritik zur Premiere des neuen Karl May Stücks in Bad Segeberg
Die Rahmenbedingungen waren perfekt. Sonniges aber kein heißes Wetter. Am Abend zuvor eine Generalprobe die vom zahlenden Publikum frenetisch gefeiert wurde. Ein Regisseur der die Doppelaufgabe als künstlerischer Leiter und gleichzeitig Mitwirkender (offiziell eine Neben-, gefühlt jedoch eine Hauptrolle) mit Erfahrung und Einsatzbereitschaft anzunehmen bereit ist. Sowie eine Geschichte, die vergleichsweise selten ihren Weg auf die Bühne findet.
Winnetou II – eine Vorlage die schon Vielen Kopfzerbrechen bereitete, die mehr als nur die Jagd nach dem Mörder der Ehefrau eines der beiden Protagonisten inszenieren wollten. Die Problematik liegt in einem einzigen Wort: Liebe! Der heute als achter Band der gesammelten Werke geführte Roman besteht aus zwei unabhängig voneinander lesbaren Geschichten. Im Gegensatz zum ersten Teil der Winnetou Trilogie besteht das Buch aus bereits früher veröffentlichten Geschichten, die durch Ergänzungen in einen Kontext zu Winnetou I gestellt wurden. Die Karl-May-Bühnen haben sich in der Vergangenheit bei ihren Winnetou II Inszenierungen im Wesentlichen auf den zweiten Teilband konzentriert, da er als einziger Band Winnetou im Zusammenhang mit einer (unglücklichen) Liebe zu einer Frau darstellt. Die Überfigur Winnetou schildert darin in knappen Worten die schon lange zurückliegende und für ihn tragisch endende Beziehung zu einer Häuptlingstochter namens Ribanna, die ihr Herz nicht dem Apachen sondern dem weißen Westmann Old Firehand schenkte. Doch eigentlich stellt diese längst zurückliegende Anekdote im Leben des Häuptlings nur die Motivation dar, um sich nach einer wilden Verfolgungsjagd an dem Mörder Ribannas zu rächen und eher durch Zufall die verloren gegangene Spur Santers, des Mörders seines Vaters und seiner Schwester wieder aufzunehmen. Allerdings griff bereits die legendäre Verfilmung von 1964 lediglich auf die Grundfiguren zurück, verschob die Story aus der Jugend Winnetous in sein Leben als erwachsener junger Häuptling und verbannte die Figur Old Firehand zu Gunsten des beim Publikum bereits etablierten Old Shatterhand. So kann es nicht verwundern, dass sich auch die Freilichtbühnen recht einmütig darin zeigten, die Beziehung der (noch lebenden) Ribanna zu Winnetou in den Mittelpunkt diverser Inszenierungen zu rücken.
Heuer hat es Hausautor Michael Stamp übernommen, den Stoff zu seinem 25. Textbuch für die Karl-May-Spiele von Bad Segeberg zu adaptieren. Er selbst versucht sich nach 2008 (mit Erol Sander in der Rolle des edlen Apachen) ein weiteres Mal an dieser Geschichte. Stamp selbst hat häufig erklärt, dass er mit der 2008er Aufführung nicht zufrieden war. Damalige Zuschauer blicken ebenfalls mit einem zwiespältigen Gefühl auf diese Saison zurück. Was wird uns nun in diesem Jahr erwarten?
Zunächst das Wichtigste: wie bereits im vergangenen Jahr ist es Regisseur König gelungen, auf Basis der neuen Buchbearbeitung , unterstützt von dem routinierten Spielleiter Stefan Tietgen, dem ehemaligen Inspizienten und nunmehr Regie-Assistenten Jan Erik Stahl sowie einem gezielt erweiterten Stab von Produktionskräften, ein temporeiches und kurzweiliges Theaterstück auf die Bühne zu bringen. Die Geschichte changiert geschickt zwischen wilder Action und gefühlvollen Momenten – die allerdings vereinzelt für schwer nachvollziehbare und ungeplante Heiterkeit beim Publikum sorgen. Die Absicht des erfahrenen Kalkberg-Darstellers und Regisseurs Nicolas König, „…mehr aus den Neunzigern…“ in Form von Tempo und Action gepaart mit härteren Musikeinsätzen (i.B. von Ennio Morricone) einbringen zu wollen und trotzdem die Märchenhaftigkeit Karl Mays zu bewahren ist erfolgreich umgesetzt worden.
Die Umsetzung gelingt mit einem durch die Bank stark besetzten Ensemble. Das Stampsche Textbuch, das – bei dieser Romanvorlage nicht unerwartet – sehr frei nach Karl May geschrieben wurde (Grüße an den NDR, die unverständliche Werktreue attestierten), wartet mit diversen Actionmomenten, einigen überraschendenden Wendungen in der Handlung und des Maysters würdigen gefühlvoll pathetischen Szenen auf. Hier sei allen voran der innere Dialog Winnetous mit seinem verstorbenen Vater Intschu-tschuna genannt, der wohl als der empathische Höhepunkt der Aufführung gelten darf.
Die diesjährige Aufführung knüpft geschickt an die Vorjahresinszenierung Winnetou I an. Im ErzähIerprolog erklärt ein hörbar gealterter Old Shatterhand, alias Rainer Schöne, zwei Kindern die Zusammenhänge. Was geschah nach den Ereignissen am Nugget Tsil? Warum ist Old Shatterhand in dieser Geschichte nicht dabei? Die Erklärung: Old Shatterhand verfolgte die Spur Santers alleine, denn in der Nähe des Forts Ripley braute sich neues Unheil zusammen – und das war dann wohl für Winnetou wichtig genug, die Jagd nach dem Mörder an seiner Familie abzubrechen. Im Roman ist es eher die Tatsache, dass die beiden Helden die Spur des Mörders verloren und für eine gewisse Zeit jeder der beiden seiner Wege ging. Doch was ist nun eigentlich der Hauptantrieb Winnetous? Die undurchsichtigen Verhältnisse rund um den korrupten Colonel Webster (Joshy Peters) und den Deserteur Tim Finnety aka Parranoh zu untersuchen oder die Häuptlingstochter Ribanna, die er seit Kindertagen kennt, zu heiraten?
Die Motivlage bleibt im Stück etwas vage. Tatsache ist, dass der Deserteur und zwischenzeitlich sogar zum Häuptling der Ponca aufgestiegene Finnety, der von seinen Kriegern Parranoh gerufen wird, ein skrupelloses Triumvirat mit Colonel Webster und dem Ölbaron Emery Forster bildet. So schnell können aus Feinde Freunde werden – wenn der Preis stimmt. Die Motive der drei Männer sind so unterschiedlich wie ihre Herkunft. Parranoh strebt nach Reichtum und Macht. Nicht zuletzt aber auch nach einer Frau: Ribanna, die Tochter des Häuptlings der Assisboine. Was er nicht weiß: diese ist brereits Winnetou zur Frau versprochen worden. Dieses Arrangement hatten ihr Vater, Häuptling Tah-scha-tunga und der verstorbene Intschu-tschuna bereits vor Jahren getroffen. Diese ersten Szenen geben zwei wahren Ikonen der Karl-May-Spiele direkt Gelegenheit, sich selbst und ihren Figuren Profil und Charakter zu verleihen. Wilder Galopp, markige Sprüche und im Gipfel ein Säbelkampf – König und Peters harmonieren prächtig miteinander. „Wie in alten Zeiten.“, kommentiert Parranoh/König und den Kennern ist bewusst, dass es sich hierbei wohl um eine Hommage an die Anfänge der beiden Darsteller handelt. Beide hatten bereits 1992 in „Old Surehand“ die Klingen miteinander gekreuzt. Damals noch etwas dynamischer – aber es liegen ja auch stolze 32 Jahre zwischen diesen Momenten.
Diese gelungene Szene stellt allerdings auch schon eine Bürde für die weitere Inszenierung dar. Dieses Schurkenduo präsentiert sich bereits so dominant, dass in diesem Augenblick niemand den vermeintlichen Oberschurken und Gaststar vermisst. So wird uns in der Folge auch zunächst der Geheimpolizist Tante Droll alias Volker Zack präsentiert. Dieser ist auf dem Weg nach New Venango, um dort die Aktivitäten des Unternehmers Emery Forster zu untersuchen. Was diesen Verdacht begründet? Wir werden es nie erfahren. Seinen Auftrag hat Tante Droll den zweieiigen Snuffle Zwillingen (Stephan A. Tölle und Rückkehrer Patrick L. Schmitz) gebeichtet, die er zufällig mit ihrem Wagen in der Prärie getroffen hat. Dieses ungleiche Brüderpaar reist ziemlich ziellos durch den Wilden Westen, weil die beiden im wahrsten Sinne des Worte nach ihrer Bestimmung, ihrem Platz im Leben suchen. Während eines gemeinsamen Frühstücks (Erinnerungen an die Spielzeit 2000 werden wach), in dem durch einen gekonnten Revolverschuss aus einem einfachen Brötchen ein warmer Bagel wird, beschließt Droll, die beiden in seine Ermittlungen miteinzubinden. Diese eher trottelig anmutenden Tunichtgute wirkten so unauffällig, dass sie seine Ermittlungen unerkannt unterstützen können.
Volker Zack, der im vergangenen Jahr sein Debüt am Kalkberg mit einer famosen Interpretation des Scout Sam Hawkens feierte, weiß auch in diesem Jahr mit sächsischen Akzent und Bauernschläue zu überzeugen. Hierzu leistet auch das eng an die Beschreibung Karl Mays angelegte Kostüm seinen Beitrag. Gemeinsam mit den Snuffle Brüdern, die von dem wunderbar harmonierenden Duo Tölle/Schmitz verkörpert werden, reist er nun nach New Venango, um dort seine Untersuchungen aufzunehmen. Tölle und Schmitz wurden passgenaue Dialoge auf den Leib geschrieben, die von diesen mit Tempo und Spielfreude ausgespielt werden. Lokalmatadore, die mit verdientem Applaus bedacht wurden. Eigentlich überflüssig darauf hinzuweisen, dass die Darstellung der Zwillinge allerdings gar nichts mit den Originalfiguren Karl Mays zu tun haben. Diese drei zwar der Fantasie Karl Mays entstammenden aber im Roman Winnetou II gar nicht auftauchenden Figuren bilden von nun an die Humorfraktion, deren Aufgabe es ist, ein Gegengewicht zu den Schurken und deren Taten zu bilden. Ein Instrument, dass in jedem Jahr unverzichtbar in den Stampschen Adaptionen Verwendung findet.
Unmittelbar danach führt uns der Erzähler in das Lager der Assiniboine, eines den Apachen in Freundschaft verbundenen Stammes. Häuptlingstochter Ribanna (Sila Sahin) kehrt gemeinsam mit ihrem Bruder Enyeto (Sacha Hödl) von der Jagd zurück. Die Szene wird begleitet von der wunderbaren Titelmelodie der Western Mini Serie „Into the west“ (2005). Doch kaum sind die beiden von ihren Pferden gestiegen, reitet Parranoh in Begleitung seiner Krieger ein. Arrogant und kaltschnäuzig verlangt er, dass Ribanna seine Frau werden soll. Selbstbewusst lehnt der zwischenzeitlich zurückgekehrte Häuptling Tah-scha-tunga (Harald Wieczorek) ab. Seine Tochter wurde ja bereits Winnetou versprochen. Damit gibt sich Parranoh nicht zufrieden und auch Enyeto ist bereit, seine Schwester mit allen Mitteln zu verteidigen. Doch als Parranoh seinen Tomahawk nach Tah-scha-tunga schwingt ertönt ein Schuss, der ihm das Kriegsbeil aus der Hand reißt: Winnetou! Im Gegensatz zum vergangenen Jahr, in dem der Apache ohne Gewehr einritt und sich alle fragten, woher denn der rettende Schuss gekommen war, schwenkt der Apache nunmehr beim Einritt die berühmte Silberbüchse.
Parranoh lässt sich nicht einschüchtern, wiederholt seine Forderung und es kommt zum offenen Kampf, den der weiße Häuptling der Ponca mit List und Tücke führt – und doch unterliegt. Drohungen ausstoßend flüchtet er im Galopp aus dem Lager. Nicht weniger eilig hat es Winnetou. Ribanna hat keine Gelegenheit auch nur ein Wort mit ihm zu wechseln. „Winnetous Herz ist voller Freude…aber er muss gehen.“ Liebe? Nichts davon zu spüren. Die Szene lässt den Zuschauer irritiert zurück. Sila Sahin kann außer ihrem sympathischen Aussehen in diesem Moment nicht viel einbringen. Überdies bereitet ihr die Unruhe des eigenen Pferdes zusätzliche Schwierigkeiten. Auch Publikumsliebling Sascha Hödl wird regelrecht von den Ereignissen überrollt, bringt sich aber dann gewohnt stark in das in aller Breite inszenierte offene Handgemenge ein. Souverän wirkt auch der Häuptlingsvater, der von Harald Wieczorek (bereits seit 1979 mit Unterbrechungen am Kalkberg tätig) verkörpert wird. Der zur Rettung herbei eilende Winnetou (Alexander Klaws) stößt erst eine Warnung, dann erbost eine Erklärung seines Beziehungsstatus und zuletzt die Faust aus, um Parranoh und seine Schergen in die Flucht zu schlagen. Herr Klaws, top in Form und einsatzfreudig wie gewohnt, verhält sich jedoch gegenüber Ribanna eher distanziert und knapp. Da ist kein Sehnen, kein Verlangen, keine spürbare Freude über das Wiedersehen nach langer Trennung zu spüren. Für eine innigere erste Begegnung mit Ribanna lässt ihm das Textbuch allerdings auch keine Zeit. Mit dem Hinweis auf ein dringendes Treffen mit Old Firehand, lässt er Ribanna ziemlich knapp angebunden zurück. Zügig wird die Szene sodann auch wieder zurückgebaut. Hier drängt sich zum ersten Mal der Eindruck auf, dass die angestrebte Inszenierungsgeschwindigkeit zum Leitwesen innigerer intimerer Momente gehen könnte.
Im nächsten Moment erleben wir, wie in der Ansiedlung New Venango, die rund um einige Ölförderanlagen entstanden ist, das Leben erwacht. Als Tante Droll eintrifft lernt der Geheimpolizist aus Sachsen zuerst einmal Fayette kennen. Ein zwielichtiger Charakter der im Ort die Ämter des Priesters und des Sheriffs innehat. „Fachkräftemangel.“, bemerkt Fayette auf die Frage Drolls, wie er denn zu beiden Ämtern gekommen sei. Am schönsten ist jedoch, dass dieser kauzige Dialog zwischen beiden Männer geführt wird, während sie sich ein Feuergefecht mit einigen Bankräubern leisten. Eine herrliche Szene, die Action und Humor perfekt verbindet und an die gelungene Westernparodie „Auch ein Sheriff braucht mal Hilfe“ (1969) erinnert. Fayette wird verkörpert von Dustin Semmelrogge, dem nur eine Spielzeit genügte, um ebenfalls zu einem neuen Publikumsliebling zu avancieren. Die Figur Fayette ist eine frei erfundene Figur, die in der Folge aber ebenfalls eine Menge Raum in der Handlung einnehmen wird – sehr zur Freude des Publikums. Gerettet wird die Szene durch Old Firehand (Jan Hartmann), der ein herzliches Wiedersehen mit Tante Droll feiert.
Hartmann darf für sich in Anspruch nehmen, in Optik und Auftreten die beste Verkörperung des Westmanns seit Raimund Harmstorf (1979) zu sein. Nie zuvor stand einem Darsteller die Biberfellmütze so gut wie Hartmann. Was sich albern liest, ist aber eine belastende Tatsache. Die ausladende Fellmütze steht nicht jedem und seine Vorgänger Ralf Bauer und Alexander Wussow sahen, vorsichtig formuliert, unglücklich damit aus.
Mit ruhiger, sympathischer aber trotzdem souveräner Stimme verkörpert er einen Mann, der seine Sehnsüchte kontrolliert und souverän jede Situation meistert. Leider schenkt das Textbuch Herrn Hartmann keine besonderen eines Helden würdige Momente. Das Löschen eines Gaslecks fällt vergleichsweise schwach aus, wenn man die Einsätze der anderen Haupt- und Nebendarsteller bedenkt. Einzig sein Dialog mit Häuptlingstochter Ribanna bietet ihm Gelegenheit, sich selbst stärker in den Fokus der Handlung zu bringen. Dies ist sehr bedauerlich, er hätte mehr verdient.
Doch zurück zur Handlung. Noch während des freudigen Wiedersehens mit Tante Droll fährt eine Kutsche mit militärischer Eskorte unter Führung des zwielichtigen Colonel Webster ein. Dieser entsteigt Emery Forster, der skrupellose Unternehmer, dem in diesem Teil des Landes fast alles gehört, die Ölfelder, die Förderanlage und, die Ansiedlung New Venango. Sein Auftritt lässt keinen Zweifel zu: er ist böse, abgrundböse. Der Handlung etwas vorausgreifend dürfen wir sagen: Der Mord an einem Kleinunternehmer im Ort, das Abkassieren von Schutzgeldern (?) bei den leichten Mädchen des Saloons, die Ermordung des Inhabers des General Store, bis hin zur Verleumdung Old Firehands als Mörder – alles Ereignisse, die in schneller Abfolge erzählt werden und keinen Zweifel an dem Charakter dieses Mannes aufkommen lassen.
Verkörpert wird dieser Archetyp des opportunistischen Unternehmers von Nick Wilder. Mit rauer Stimme, herrisch und selbstbewusst, lenkt er voller Bosheit und krimineller Energie die Geschicke aller und manipuliert diese nach seinem Gutdünken. Als er den Westmann entdeckt, versucht er überhastet, diesen zum Verkauf seines Grundbesitzes zu überreden. Allerdings ohne Erfolg. Old Firehand verkauft seine Felle und reitet zum Treffpunkt mit Winnetou.
Das folgende Aufeinandertreffen macht dann auch kaum drei Minuten Spielzeit aus. Mit knappen Worten und Halbsätzen wird vermittelt: Old Firehand geht es gut, Winnetou hat Parranoh besiegt (keine Nachfrage von Old Firehand, wer das ist – kennt er ihn schon?), im Gegenzug erwähnt Old Firehand die Skrupellosigkeit und Gier Emery Forsters (Zitat „Winnetou hörte davon.“) und kondoliert wegen des Todes Intschu-tschunas und Nscho-tschis. Winnetou sehnt sich nach seiner Familie, die Toten werden begleitet von einem Vogel: Auftritt des heiligen Adlers Ko-Inta. Einflug des Adlers unter andächtigen Raunen des Publikums, würdevolle Pause und Abflug unter Applaus. Das nimmt fast die halbe Dauer der Szene in Anspruch. Doch Winnetou will auch gute Nachrichten verkünden – kommt aber nicht dazu, weil plötzlich Ribanna auftaucht.
Abgesehen davon, dass wir keine Erklärung dafür erhalten, woher sie Kenntnis vom Treffpunkt hat, wirkt Winnetou auch ziemlich angenervt wegen der Störung – zumindest lässt der Gesichtsausdruck von Klaws keinen anderen Schluss zu. Ribanna unterbricht ruppig Old Firehands Ausführungen und lässt wenig Widerspruch zu in dem Wunsch, Winnetou alleine sprechen zu wollen. Beide Männer nehmen dies ohne erkennbare Reaktion hin. Old Firehand reitet mehr oder weniger schulterzuckend nach New Venango zurück – worin die Motivation liegt erfahren wir allerdings nicht. Winnetou folgt der gar nicht mehr so anmutig wirkenden Ribanna – wobei Sila Sahin in dieser Szene die Nervosität und Bockigkeit ihres Pferdes erneut Schwierigkeiten bereitete.
Zurück in New Venango. Eben noch ermordete er eigenhändig einen Unschuldigen Händler, jetzt unterhält er die ganze Stadt mit einem spontanen Fest, bei dem er persönlich die Einwohner mit seinem wilden Mundharmonika Spiel begeistert. Die Rede ist von Emery Forster und einer fulminanten Interpretation von „Thunderstruck“, einer legendären AC/DC Nummer. Der ihn begleitende Banjo Spieler ist übrigens bekleidet mit einer Schuluniform wie sie der AC/DC Gitarrist Angus Young trägt. Natürlich hat das alles nicht den Hauch mit Karl May zu tun, aber man muss konzedieren, dass es sich um eine fantastische musikalische Leistung von Nick Wilder handelt, die eingerahmt wird von einer grandiosen Tanzchoreografie mit hohem Statisteneinsatz. Man weiß schlicht gar nicht, wo man hinschauen soll, so viel wird dem Auge geboten. Der Schneiderei gebührt ein großes Lob für all die wunderbaren Kostüme. Den langjährigen Besuchern bot die Szene auch noch die melancholische Erinnerung an Beatrice Richter, die als Gaststar in der 2008er „Winnetou II Aufführung mitwirkte – eine Komparsin trug beim Tanz ihr damaliges Kostüm/Kleid. Außerdem trug ein Statist den Gehrock von Harald Wieczorek aus der seinerzeitigen Aufführung von „Der Ölprinz“.
Zurück zur Handlung. Selbst Tante Droll wird von der Begeisterung mitgerissen, schwingt das Tanzbein und nur die Fresslust eines Pferdes verhindert seine romantische Annäherung an die Tanzpartnerin. Für Volker Zack erneut die Gelegenheit zu brillieren. Diesmal als Tänzer mit wunderbarer Mimik und herrlichen Hüftschwung. Die Szene ist auf ihre Art der erste echte Höhepunkt der Inszenierung.
Kaum ist die Musik verklungen, erschüttert eine Explosion einen der Bohrtürme. Geistesgegenwärtig löscht der eben erst eingetroffene Old Firehand den Brand durch eine gezielte Sprengung, die dem Feuer den Sauerstoff entzieht. Im Folgenden eröffnet Wilder seinen Handlangern Fayette und Webster, dass seine Ölquellen zu versiegen drohen. Ersatz findet sich nur auf dem Land der Assiniboine. Doch diese sind nicht bereit zu verkaufen. Ebenso wenig Old Firehand, der mit Erlaubnis der Assiniboine auf deren Gebiet eine hochgelegene Blockhütte gebaut hat, die er ihrer Berglage wegen als „Festung“ bezeichnet.
Als der junge Enyeto in der Ansiedlung eintrifft, um Munition zu erwerben, will Forster die Gunst der Stunde nutzen und bietet einen Handel an: Land gegen Munition. Enttäuscht von der Ablehnung des Häuptlingssohns beschuldigt Forster diesen des angeblichen Angriffs auf seine Person. Als der korrupte Colonel Websters Enyeto arretieren will, greift Old Firehand ein. Er kann zwar den jungen Assiniboine aus der Schusslinie bringen, wird jedoch selbst von Forster eines Mordes beschuldigt, niedergeschlagen und in das Fort Ripley (eine Anspielung des Kinofans Stamp auf die legendäre Rolle von Sigourney Weaver in dem Klassiker „Aliens“?). Während Wilder in dieser Szene alle Register seiner Schauspielkunst ziehen darf, bleibt für den sympathischen Jan Hartmann nicht viel zu tun, womit er sich nachhaltig in Erinnerung bringen kann. Als Droll protestiert wird er von Fayette, ganz der willfährige Handlanger seines Meisters Emery Forster, mit vorgehaltener Waffe abgeführt.
Es folgt ein kurzer Auftritt der Snuffles, die ungeschickt und planlos dem arretierten Droll zur Hilfe kommen wolle. Ein kurzer Moment der Heiterkeit, bravourös und in perfekter Abstimmung gespielt, bevor die Aufführung in die erste große Szene von Sila Sahin eintritt.
Ribanna hat Winnetou an einen Ort geführt, der für beide seit ihrer Kindheit eine große Bedeutung hat. Man fragt sich unwillkürlich, wie es die beiden geschafft haben, so viel Zeit miteinander zu verbringen – die Entfernung zwischen Nebraska und New Mexico ist ja nun doch…aber lassen wir das, wir sind in einem Karl May Märchen.
Kurz gesagt: Ribanna eröffnet Winnetou, dass sie nur noch freundschaftliche Gefühle für diesen hegt. Winnetou selbst zeigt sich nicht sonderlich überrascht, immerhin ahnte er dies schon (ein Blick in die Augen, einige kurzen Minuten des gemeinsamen Reitens – der Mann hat Ahnung von Frauen). Sichtlich gefasst nimmt er auch das Bekenntnis hin, dass sich Ribanna in seinen Freund Old Firehand verliebt hat und dieser ihre Gefühle erwidert. Mit dem Großmut des Helden akzeptiert er die Situation. Soweit zur Handlung.
Leider hat diese Szene bei mir keine besondere Emotion ausgelöst. Zunächst einmal fand ich es unglücklich, dass diese beiden, bei all dem was sie angeblich verbindet, in diesem wichtigen Augenblick noch nicht einmal vom Pferd steigen, um sich nahe zu sein. Hätte Winnetou es nicht verdient? Hätte es schon WhatsApp gegeben, hätte sie gar auf diese Weise Schluss gemacht? Winnetous Reaktion ist nicht die eines Verletzten, eines Getroffenen, dessen Hoffnungen sich in Luft auflösen. Nein, er scheint fast gleichgültig. Damit schließt sich auch ein Kreis, der mit dem eher emotionslosen Wiedersehen der beiden Figuren begonnen hat. Erst als Ribanna erklärt, zur Ehrenrettung ihres Stammes trotz mangelnder Gefühle Winnetou heiraten zu wollen, regt sich etwas Emotion in Winnetou. Es geht nicht um blinden Gehorsam gegenüber den Vätern, die Kinder vor Jahren miteinander verkuppelten, es geht um persönliches Glück und Schicksal. Ribanna jedoch stellt die Pflicht in den Vordergrund. Eine überraschende Rollenverteilung. Aber vielleicht dem sogenannten neuen Frauenbild geschuldet.
Unterbrochen wird die nicht abgeschlossene Diskussion vom Eintreffen Enyetos, der von der Gefangennahme Old Firehands berichtet. Persönliches muss nun zurückstehen, die Rettung des weißen Jägers hat Vorrang. Es mag daran liegen, dass ich ein unverbesserlicher Romantiker bin, aber in dieser Szene hätte ich mir viel mehr Nähe, Pathos und Gefühl gewünscht. Etwas davon schwingt in der Stimme von Sila Sahin mit, bei Alexander Klaws vermisse ich es gänzlich. Zugutehalten möchte ich den beiden jedoch, dass das Sitzen auf den Pferden und deren Führung (das Pferd von Sila Sahin zeigte hier bereits große Nervosität) zu einer gewissen Passivität führt und kaum ein ausdrucksstärkeres Körperspiel zuließ.
Erneut folgt ein blitzschneller Szenenwechsel hinzu zu dem Transport des gefangenen Old Firehand auf einem offenen Wagen. Begleitet von Emery Forster und Fayette kommt es zu einem Wortwechsel bei voller Fahrt/Ritt durch den Mittelring. Die Szene ist von Nicolas König brillant umgesetzt. Mit Geschwindigkeit und Dialog. Auch hier entstehen keine Längen oder Pausen. Am Fort angekommen trennen sich die Wege. Old Firehand wird im Fort eingekerkert, ein zufriedener Forster und ein verunsicherter Sheriff Fayette („Haben wir wirklich genug Beweise?“) reiten zurück nach New Venango. Ein kurzer Einritt von Winnetou und Ribanna und mit zwei Sätzen wird ein Rettungsplan umrissen: Enyeto holt die Krieger der Assiniboine zur Hilfe und deckt damit Winnetous Eindringen in das Fort. Es ist keine Zeit zu verlieren.
Ein überhastet eingerichtetes Standgericht verurteilt Old Firehand zum Tode. Schon legen die Schützen an als Ribanna vor dem Fort erscheint und laut die Freilassung des Verurteilten fordert. Doch die Szene wird jäh unterbrochen als das Pferd von Sila Sahin zum dritten Mal eigensinnig reagiert und Sahin fast die Kontrolle verliert. Ein kurzer Aufschrei und nur mit Mühe kann sie die Kollision mit dem schweren Schiebetor im Kunstfelsen vermeiden. Geistesgegenwärtig versucht Kollege Joshy Peters noch mit einem geknurrten „Ganz ruhig, Fury.“ die Situation zu retten. Respekt für beider Einsatz, die Szene zu retten. Derweil hat Winnetou die Palisade erklommen (Klaws ohne Double-Einsatz!) und überrascht Webster sowie seine Soldaten. Mitten in die Aktion bricht der Angriff der berittenen Assiniboine unter der Führung von Enyeto. Eine Szene, in der sich das ganze reiterliche Können von Sascha Hödl beweist. Explosionen, Schüsse, ein Stück der Palisade bricht ein und ein Soldat wird vom Druck einer Explosion herausgeschleudert. Im Galopp flüchten Winnetou, Old Firehand und Ribanna zu Pferde. Die Rettung ist geglückt. Geglückt ist auch der finale Abritt von Sila Sahin. Durch blitzschnelle Umdisposition wurde ihr ein Begleiter an die Seite gestellt, der neben dem übernervösen Pferd herlief und offensichtlich bereit war, sich in die Zügel zu werfen falls es nötig würde. Spannende Momente – wenn gleich sie auch nichts mit der Handlung zu tun hatten.
Nach dieser effektvollen Action Sequenz folgt erneut ein humorvoller Versuch der Snuffle Zwillinge, die im Gefängnis eingeschlossene Tante Droll zu befreien. Diese Szene lebt von der Verwechslungskomik und dem Wortwitz, den alle Beteiligten perfekt beherrschen. Am Ende beschließt ein völlig entnervter Fayette, alle drei laufen zu lassen.
Dem Moment der Heiterkeit folgt ein Hauch von Romantik. Ribanna und Old Firehand tauchen auf der Veranda seiner hoch (im wahrsten Sinne des Wortes) liegenden Blockhütte auf. Es dürfte sich wohl um den höchsten Spielort seit langer Zeit bei einer Inszenierung in Bad Segeberg handeln. Dort erzählt Ribanna von ihrem Gespräch mit Winnetou. Wie bereits der vorherige Dialog so haben sich auch hier die Beteiligten sehr unter Kontrolle und treffen emotionsarm aufeinander. Aus meiner Sicht wurde auch hier Potenzial nicht vollständig ausgenutzt. Stattdessen, dass sich aus beiden Dialogen quasi eine Showdown Situation ergibt, scheinen sich alle Beteiligten achselzuckend der Situation zu ergeben. Dann bricht Ribanna auf, um ihrem Schicksal entgegen zu reiten. Old Firehand, ähnlich stoisch wie Winnetou, wird ihr verbunden bleiben – egal ob als Freund oder Lebensgefährte.
Winnetou hingegen hat derweil die Einsamkeit gesucht und führt ein Selbstgespräch, gerichtet an seinen verstorbenen Vater. Tatsächlich erscheint dieser im Hintergrund und führt das Selbstgespräch als inneren Dialog mit seinem Sohn fort. Hier zeigt Winnetou einerseits etwas von seinen Gefühlen, von dem eigenen Konflikt den er durchlebt, anderseits findet er Rat und Empfehlung für sein weiteres Handeln. Die Details dieses spannenden Zwiegesprächs verraten wir an dieser Stelle nicht. Aber ich möchte sagen, dass dies der stärkste und eindrucksvollste Winnetou Moment der ganzen Aufführung und der letzten Jahre ist. Michael Stamp gebührt großes Lob für diese wunderbare Idee. Joshy Peters als Intschu-Tschuna gelingt es, mit Stolz und mit Einfühlungsvermögen zu agieren. Alexander Klaws nutzt die Gelegenheit Emotionen zu verkörpern, die mir in der vorhergegangenen Dialogszene mit Sila Sahin alias Ribanna noch fehlten.
Kaum ist das letzte Wort verklungen, erscheinen die Angehörigen des Stammes der Assiniboins, um in einer heiligen Zeremonie, in der Häuptling Tah-scha-tunga Winnetou und Ribanna vermählen will. Eingeleitet wird die Zeremonie durch eine Ansprache von Enyeto. Sascha Hödl beweist auch hier die gelebte Verbundenheit zu den indianischen Ureinwohnern, indem er seine Passagen mit großer Eindringlichkeit und pathetischer Ehrlichkeit spricht. Auch versteht er es wieder einmal, ohne Text, sondern durch Gestik und Mimik, aus dem Hintergrund heraus eine Szene mitzugestalten. Allerdings unterbricht Winnetou die Zeremonie, erläutert seine Motive und stellt in den Vordergrund, dass niemand sein eigenes Glück aus falschen Motiven heraus opfern soll. Gleichzeit übt er damit Kritik am Vorgehen der Väter, über die Köpfe der Kinder hinweg diese Entscheidungen getroffen zu haben.
Winnetou macht den Platz an Ribannas Seite für Old Firehand frei, der bis zu diesem Zeitpunkt stumm im Hintergrund stehend, der Zeremonie beigewohnt hat. Der anschließende Kuss von Ribanna und Old Firehand wird der Bedeutung des Moments entsprechend begeistert vom Publikum beklatscht. Ribannas Vater ist verwirrt, lässt sich jedoch von seinem Sohn mit kurzen einfühlsamen Worten überzeugen, der neuen Zukunft optimistisch entgegen zu blicken. Doch gerade, als auf allen Seiten die Erleichterung überwiegt, überfallen die Poncas die Gruppe und bemächtigen sich der Häuptlingstochter. Parranoh wähnt sich am Ziel und flüchtet mit seiner wertvollen Gefangenen. Aber natürlich heften sich sofort Winnetou, Old Firehand und die Krieger der Assiniboine an die Fersen des Schurken.
Parranoh sucht Unterschlupf in New Venango. Dorthin haben kurz zuvor die Snuffles ihren Wagen verschafft, weil es in der offenen Prärie nicht sicher genug schien. Wie man sich doch täuschen kann. Forster ist erbost, weil Parranoh mit seiner Geisel den Angriff der Assiniboine auf New Venango provoziert. Sheriff Fayette soll die Gefangene, die sich nach besten Kräften wehrt, einsperren.
„Wer ist denn die Kleine überhaupt?“, „Ribanna!“, „Ist das nicht eine Sängerin?“ Dem kurzen gespielten Witz folgt bald darauf der erwartete Angriff. In diesem Bild fährt Regisseur Nicolas König wirklich alles auf, was in dieser Inszenierung Beine hat. Bis hin zum jüngsten Saloon Girl ist jeder in einen heftigen Nahkampf verstrickt. Die Aktivität ist so vielfältig, dass man fast übersehen könnte wie Winnetou in einem Höhleneingang verschwindet (überraschend zielstrebig) und Old Firehand im allgemeinen Kampfgetümmel auch ein paar Hiebe austeilt. Kurz danach kommt Winnetou mit Ribanna heraus. Gemütlichen Schrittes geht Old Firehand ihr entgegen und führt sie zu ihrem (immer noch eskortierten) Pferd. Erneut bleibt für Jan Hartmann keine Gelegenheit, sich als Held wirklich zu beweisen. Flüche ausstoßend reitet Parranoh davon und entgeht der gerechten Strafe. Gleiches gilt auch für Emery Forster, der sich während des Kampfes völlig im Hintergrund hält. Zurück bleiben Tante Droll und die beiden Snuffles, die zu Beginn der Auseinandersetzung einen strategischen Rückzug angetreten haben und zur, für alle Beteiligten verdienten Pause, überleiten.
Nun folgt ein Zeitsprung von rund einem Jahr. Der zweie Akt wird wie so häufig mit einem indianischen Tanz eingeleitet. Zu den Klängen von „Adiemus“ (welches schon früher am Kalkberg in ähnlicher Form Verwendung fand) feiern die Assiniboine den Tag, an dem der neugeborene Sohn von Ribanna und Old Firehand in den Stamm aufgenommen werden soll. Diese Einführung dient dazu, die noch bestehende Unruhe unter den aus der Pause zurückgekehrten Zuschauern zu überbrücken und eine gewisse Stimmung zu erzeugen. Warum dies allerdings nicht unter Verwendung einer passenderen indigenen Zeremonie-Musik erfolgt ist unverständlich. Hier hätte man den ewigen Neunmalklugen weltverbessernden Moralisten schnell die Grundlage zum Nörgeln entziehen und stimmungsfördernd agieren können. Noch überraschender ist dann die Publikumsreaktion als Tah-scha-Tunga nach dem Namen des jungen Kriegers fragt, der nun in den Stamm aufgenommen werden soll. Die Antwort „Harry“ löst im Publikum verschiedentlich Heiterkeit aus. Diese Lacher waren gewiss nicht eingeplant und auch die Beteiligten auf der Bühne können sich ein Lächeln kaum verkneifen. Wo der Grund für die Lacher liegt ist schwer zu erklären. Spontane Reaktionen in meiner unmittelbaren Nähe ließen einerseits einen Bezug zu „Harry Potter“ als auch eine Enttäuschung über die Einfachheit des Namens angesichts der großen Zeremonie erkennen. Aber vielleicht kennen mittlerweile auch zu wenige Menschen die Romanvorlage und die Tatsache, dass Karl May selber den Namen für Old Firehands Sohn erfand. Egal!
Einen schönen Moment erleben wir mit einer kurzen Beschwörungszeremonie auf dem Kunstfelsen. Ähnliches ist seit den frühen 2000er Jahren auch nicht mehr dargeboten worden. Kurz danach erscheint Winnetou und bringt auch gleich ein Geschenk für das Neugeborene mit. Ein Pony! Auch hier gingen die Reaktionen im Publikum weit auseinander. Von „Wie süß!“ bis hin zu „Was soll das Baby denn damit?“ war alles drin. Auch diese Szene hat etwas Zufälliges. Winnetous Auftauchen scheint überraschend und gerade noch rechtzeitig, um etwas vom Kuchen abzubekommen. Keine Chance Emotionen zu zeigen, den Zuschauer spüren zu lassen, wie sehr er es sich gewünscht hätte, es wäre sein Sohn gewesen. Auch hier scheint Potenzial verschenkt. Doch bevor es zu idyllisch wird, schwankt der alte Häuptling und verstirbt in den Armen seiner Kinder. Dabei benennt er mit Enyeto seinen Nachfolger.
Die Trauer ist kaum geschwunden, da stellt sich schon die Frage nach dem „Wie konnte das geschehen?“. Winnetou erfährt, dass der ganze Stamm an einer unbekannten Krankheit leidet. Der ganze Stamm? Nun, zum Glück sind noch genügend zum Tanzen übriggeblieben. By the way, wusste Old Firehand eigentlich nichts davon? Er hätte ja sicherlich Heldenhaftigkeit genug besessen, um medizinische Hilfe zu organisieren. Wieder egal! Es ist ein Märchen! Mit vielen ungeklärten Fragen zieht sich der um seinen Häuptling trauernde Stamm zurück. An dieser Stelle habe ich mehr emotionales Spiel erlebt als in den anderen Szenen/Dialogen zuvor. Die Momente rund um den Tod Tah-scha-Tungas sind pure Gänsehaut, die vor allem vom Zusammenspiel Hödl, Wieczorek und Sahin getragen wird. Old Firehand mit dem Baby auf dem Arm hat regelrecht alle Hände mit dem Neugeborenen zu tun. Winnetou nimmt den Tod des alten Häuptlings auch sehr gelassen hin.
In New Venango löst sich das Rätsel schnell auf. Aus einem Gespräch zwischen Forster und Webster geht hervor, dass seine Soldaten seit Wochen den Bach, der durch das Lager der Assiniboine fließt mit Öl vergiften. Fässerweise wird es in den Fluss geschüttet.
Hiernach folgt erneut eine heitere Szene rund um die beiden Snuffles und Sheriff Fayette. Mit Witz und Geschick erwehren sich die Brüder erneut einer Festnahme und provozieren auch hier einige Lacher. Wie sie das tun wird auch jetzt nicht verraten.
In der Zwischenzeit ist Enyeto einer anonymen Einladung in der Prärie gefolgt. Dort trifft er auf Forster und Webster, die versprechen die Assiniboine zu heilen, wenn diese dagegen für immer ihre Jagdgründe verlassen. Der verzweifelte Enyeto ist bereit, dieses Angebot ernsthaft in Erwägung zu ziehen. Abgehalten wird er jedoch von den plötzlich auftauchenden Winnetou, Old Firehand und Ribanna die mit der simplen Botschaft „Diesem Mann darf man nicht trauen.“ den Häuptlingssohn davon abbringen, voreilig zu handeln. In dieser Szene darf Hödl erneut brillieren. Mit einem Monolog, der eines Winnetou würdig wäre, steht er in seiner Einsamkeit im krassen Gegensatz zu der Helden-Bande die danach geknubbelt über ihn rollen. Auch der Einsatz des Adlers kann diesen gehetzten Eindruck nicht überdecken.
Im Anschluss reitet Old Firehand fort mit dem eher dubiosen Hinweis auf eine mögliche Lösung ihrer Probleme. Ein weiteres Element das Fluch und Segen zugleich ist: Emery Forster tritt zu den Klängen von Ennio Morricones „Spiel mir das Lied vom Tod“ auf, vorgetragen auf der eigenen Mundharmonika. Wirkte dies beim Auftritt noch überraschend so sehr störte es viele Betrachter beim Abgang. Manchmal ist weniger eben mehr. Einfallsreich gestaltet war der Dialog allerdings dadurch, dass die beiden Schurken den jungen Indianer langsam umkreisen und ihm damit die Ausweglosigkeit seiner Lage beweisen. Wie geht es nun weiter?
Innerhalb von fünf Minuten erfahren wir, mit welcher List die Snuffle Brüder sich in das Fort schmuggeln, das Vergiften des Baches der Assiniboine entdecken, unter Auslösung einiger verheerender Explosionen das Fort wieder verlassen und den extrem beeindruckten Droll wieder einsammeln. Auch diese Szene ist mit einem rasanten Tempo inszeniert und führt die Protagonisten tatsächlich vom Fuß der Arena bis in den Mittelring zu einem unbeobachteten Aufstieg auf einen Planwagen, zum Eindringen und fluchtartigen Verlassen des Forts. Irre! Und in der Szene ist alles drin was man sich wünscht, Tempo, Witz, Überraschung und Explosionen. Zumindest ist das Rätsel rund um die Krankheit der Assiniboine damit gelöst.
Nun überschlagen sich die Ereignisse. Zunächst wird Enyeto feierlich zum neuen Häuptling der Assiniboine gewählt und von Winnetou inthronisiert. Auffällig in dieser Szene ist, dass beide Häuptlinge in Darstellung und Charakter ebenbürtig erscheinen. Einen wie auch immer gearteten Rangunterschied kann man nicht verspüren. Mit Abschluss der Zeremonie verabschiedet sich Ribanna und verweist darauf, sich wieder um ihren Sohn kümmern zu müssen. Richtig, Vater Firehand befindet sich ja noch auf geheimer Mission. Doch kaum hat sich die Versammlung aufgelöst, erscheint Tante Droll (zu Pferd) in Begleitung der Snuffles (zu Fuß) und gemeinsam erklärt man den Häuptlingen warum die Assiniboine so krank und wodurch sie vergiftet wurden. Doch noch während sie Pläne schmieden, sehen sie sich Emery Forster und Colonel Webster nebst einer Handvoll Soldaten umstellt. Die Lage scheint aussichtslos.
Da erscheint Old Firehand und dieser hat zur Überraschung aller Hilfe in Form einer Kavallerie Einheit sowie deren Oberbefehlshaber, General Ulysses S. Grant, mitgebracht. Diese umstellen die Schergen von Webster, der sich opportunistisch sofort seinem zornbebenden Vorgesetzten als Kronzeuge andient. Diesen Verrat bezahlt er mit dem Leben. Forster erschießt den Verräter und galoppiert davon. Spätestens in dieser Szene wird das Gaspedal durchgedrückt. Zu viele Geschichten sind zu Ende zu erzählen (Enyetos Erhebung zum Häuptling, ein passendes Ende für den Schurken Webster, die Auflösung des Öl-Rätsels). Doch damit bekommt die Inszenierung fast zu viel Tempo, drohen Details der Aufmerksamkeit des Publikums zu entgehen. Erneut muss Old Firehand/Jan Hartmann dabei zusehen, wie andere die Arbeit machen. Ihm blieb kaum mehr als die Aufgabe eines Kuriers. Die Drohung des erschossenen Webster ernst nehmend, eilt man nun zu Old Firehands Festung. Denn angeblich versucht Parranoh erneut, sich Ribannas zu bemächtigen. Tante Droll und die Snuffles wollen hingegen nach New Venango, um Sheriff Fayette festzusetzen.
Dort angekommen stellen Droll und seine Gefährten den dubiosen Sherriff. Doch in ihrem Übereifer haben die drei eine Handvoll Revolverhelden vergessen, die der Aufforderung sich zu ergeben natürlich nicht nachkommen und hinter einigen Saloon Damen Deckung nehmen. Doch völlig überraschend erweisen sich die Snuffles als hervorragende Schützen, die die Revolvermänner mit Präzisionsschüssen unschädlich machen. Kurzerhand leeren die Saloon Damen den verwundeten Schurken erst die Taschen und bringen sie dann erst zum Arzt. Nun will Droll zur Tat schreiten, aber zur erstaunlicherweise outet sich Sheriff Fayette als US Marshall. Kaum hat sich die Verwunderung gelegt, reitet Emery Forster ein. Allerdings sieht er sich statt der erhofften Hilfe der geballten Kraft mehrerer Gesetzesvertreter gegenüber. Hals über Kopf flüchtet Forster und springt auf die Postkutsche auf, die in diesem Moment die Siedlung verlässt. Im Inneren der Kutsche wähnt sich Forster in Sicherheit. Da reitet Enyetos heran, wirft eine Sprengladung in die Kutsche und verwandelt diese in einen Feuerball in dem Forster sein gerechtes Ende findet. Droll und Fayette sehen ihren Auftrag als erledigt an und die Snuffles haben nun endlich ihre Berufung gefunden – Verbrecher zur Strecke bringen. Als Spürnasen!
Wir wollen diese erneut kurze aber effektvolle Szene betrachten. Die Kombination aus Komik und Action ist vortrefflich gelungen. Die Snuffles als ebenbürtige Gegner gefährlicher Revolvermänner zu präsentieren ist ein famoser Schachzug des Autors. Nicht weniger überraschend ist das fulminante Ende des Oberschurken Forster. Auch die überraschende Enttarnung des bis dahin als Handlanger geltenden Fayette als Gesetzeshüter ist ein dramaturgischer Winkelzug wie ihn Michael Stamp bis dato noch nicht ersonnen hat. Schade ist nur, in welcher Geschwindigkeit auch diese Erzählstränge zum Ende gebracht werden. Gerade Kinder in meiner näheren Umgebung konnten dem Geschehen kaum folgen. Der Schurke hat sein verdientes Ende gefunden… Aber Moment, da ist immer noch einer übrig. Also weiter geht die wilde Fahrt!
Zum Showdown treffen sich alle Beteiligten am Fuße von Old Firehands Festung. Parranoh hat, wie von Webster großmäulig verkündet, seinen Vorsprung genutzt, Ribanna zu verfolgen. Während diese ihren Neugeborenen Sohn auf dem Arm wiegt, setzt sich der Lastenaufzug (stimmt, den hatten wir ja noch gar nicht erwähnt) in Bewegung, mit dem man die hochgelegene Blockhütte erreichen kann. Wahrhaft diabolisch taucht Parranoh mit höhnischen Worten („Oh ja, gleich ist Daddy da!“) vor der entsetzten Ribanna auf. Panisch verschanzt sich Ribanna in der Hütte. Gleichzeitig tauchen Old Firehand, Winnetou, die Kavallerie, eine Kanone und die Krieger der Assiniboine auf. Mehr geht nicht! Wieder entwickelt sich vor den Augen der Zuschauer eine Massenszene – alle gegen einen. Parranoh zeigt sich unbeeindruckt. Die Helden entwickeln die Idee für eine Rettungsaktion. Es entsteht sich ein wilder Schusswechsel. Winnetou kämpft sich an den Fuß des Felsens heran. Ribanna nutzt die Gunst des Augenblicks und versucht aus der Hütte zu entkommen. Parranoh bemerkt dies jedoch und schießt sie rücksichtslos nieder. Fast zeitgleich gelingt es Winnetou über eine Seilwinde, deren Haltevorrichtung Old Firehand zuvor zerschossen hat, nach oben zu gelangen. Es kommt zum finalen Zweikampf, Parranoh stolpert, Winnetou hilft der angeschossenen Ribanna die immer noch das Kind an sich klammert in den Lastenaufzug und fährt hinab. Parranoh kann nur hilflos zusehen. Gleichzeitig führt Old Firehand die Lunte an die neu geladene Kanone. In den von einer Sprengladung entzündeten Flammen gerät Parranoh in Brand und stürzt sich selbst in den Abgrund.
Von Winnetou gestützt erreicht Ribanna mit Harry im Arm die Kämpfer. Old Firehand nimmt seinen Sohn in die Arme, dann verlassen Ribanna zusehends die Kräfte und sie wird auf einer Bahre von den Assiniboine fortgebracht. Über ihr weiteres Schicksal wird Manitou entscheiden – und damit bleibt das Publikum gänzlich in Ungewissen ob sie die schwere Verletzung überlebt.
General Grant und seine Reiter kehren in ihre Quartiere zurück. Enyeto und Old Firehand folgen der schwer verletzten Ribanna. Zurück bleibt – mit seinen Gefühlen und Gedanken alleine gelassen – Winnetou, der einsame Häuptling der Apachen. Laut spricht er aus was auch viele Zuschauer gedacht haben werden: wie gerne hätte er jetzt seinen Blutsbruder Scharlih an seiner Seite. Doch zur Verwunderung der Zuschauer erklingt aus dem Nichts heraus die Stimme des Blutsbruders: „Wir werden uns wiedersehen, mein Bruder. Schon bald!“ Mit dieser Aussicht reitet Winnetou von dannen. Was für ein wunderbarer Brückenschlag zur der kommenden Aufführung von „Halbblut“ im kommenden Jahr.
Begleitet vom tosenden Applaus des Premierenpublikums beendet dieser Abritt die Aufführung. Die Schlussszene lebt in weiten Teilen von der Optik, dem Showdown in luftiger Höhe. Die Zutaten, d.h. Seilwinde, Kanone, brennender Schurke im Todessprung, waren gewiss nicht neu aber erneut aufregend gemischt. Und doch bleiben einige irritierende Eindrücke. Den eigentlichen Oberschurken hat bereits das Zeitliche gesegnet. Der nachgeordnete Unterschurke, erlebt das wesentlich effektvollere, ausgedehntere und spektakulärere Ende. Damit muss ich attestieren, dass Nicolas König alias Parranoh den Gaststar Nick Wilder alias Emery Forster übertrumpft. Das sich die schwer verletzte Ribanna noch aus eigener Kraft zu Old Firehand bewegen konnte, war allerdings angesichts der vermeintlichen Schwere der Verletzung wiederum schwer zu vermitteln. Aber es ist ein Märchen! Im Märchen ist bekanntlich alles möglich.
Die bereits 2008 heftig geführte Diskussion über die Zukunft Ribannas wurde wohl auch in diesem Jahr geführt und endete erneut in einem Kompromiss. In Sorge um die Kinderpsyche erspart man gerade dieser Altersgruppe den Anblick einer sterbenden Mutter. Halbwegs informierte Besucher wissen jedoch, es wird kein Happy End für Old Firehand und Ribanna geben. Ob das Niederschießen der jungen Mutter allerdings weniger schlimm für die kleinwüchsigen Besucher war – schwer zu beurteilen. Überhaupt fiel auf, dass die Altersgruppe vom Neugeborenen bis zum Kindergartenkind deutlich zugenommen hat. Diese Kinder können jedoch weder der komplexen Geschichte folgen und erschrecken teilweise heftig bei den Spezialeffekten. Dies ist kein Fehler des Veranstalters. Es ist vielmehr ein erschreckendes Versagen der Eltern, die jedes Gefühl für altersgerechte Unterhaltung vermissen lassen.
Last but not least bleibt Old Firehand Darsteller Jan Hartmann leider auch in dieser Schlussszene der ganz große Auftritt versagt. Ein Schuss, ein Auslösen der Kanone und der Ausritt hinter der sterbenden Frau. Verschenktes Potenzial. Jan Hartmann würde ich gerne am Kalkberg wiedersehen. Vielleicht in einer zeitnahen „Silbersee“ oder „Tal des Todes“ Produktion. Was sich nun auf einige Leser wie eine übertriebene Kritik wirkt ist aber lediglich der Fluch der guten Tat. Michael Stamp und Nicolas König haben in diesem Jahr so viele Ideen, Figuren und Handlungsstränge entwickelt, dass es für zwei Aufführungen reichen würde. All diese Geschichten wollen und müssen ausgespielt werden und da überstürzen sich teilweise die Ereignisse.
Blicken wir also auf das Positive: die diesjährige Inszenierung stellt eine würdige Nachfolgeproduktion der letztjährigen Rekordinszenierung dar. Sehenswert unterhaltsam von der ersten bis zur letzten Minute. Der Besuch wird dringend empfohlen.
Apropos Gefühl für die Situation. In der einer alten Tradition folgend, vom Regisseur persönlich vorgetragenen namentlichen Präsentation des gesamten Teams und vor allem der Darsteller kam es zu einer überraschendenden Panne.
Als Nicolas König den König der Frauenherzen und stolzen Häuptling der Apachen ankündigt, passiert … nichts. Die Winnetou Melodie läuft, das Publikum klatscht… es passiert immer noch nichts. „Das wäre Alexander Klaws gewesen.“, kommentiert der etwas konsterniert wirkende Regisseur und heimst damit zumindest noch einen Lacher ein. Auch in der Folgenden Versammlung des gesamten Teams fehlt der Hauptdarsteller. Ungläubig verfolgen über 7.000 Besucher, wie das gesamte Team sich ausgelassen über den Erfolg freut und sich feiern lässt. Es dauert eine Weile bis es zur Aufklärung kommt. Alexander Klaws hat sich in Schale geworfen, um nun, begleitet vom nicht minder traditionsreichen Feuerwerk, ein neues Lied zum Besten zu geben.
Bei allem Respekt vor den Fähigkeiten des Sängers: es ist mehr als unglücklich, sich in dieser Form aus dem Team selber herauszuheben und sich eigennützig zum absoluten Mittelpunkt des Abends zu machen. Da hilft auch nicht der Hinweis, der Künstler habe sich inhaltlich von den Friedensbotschaften eines Karl May inspirieren lassen. Auch im Publikum löste dies sehr unterschiedliche Reaktionen aus. Nach der Darbietung dann auch noch die Geschäftsführerin in der Verabschiedung des Publikums zu unterbrechen, um neben Danksagung, auch noch einmal um die Gunst der Zuschauer zu buhlen, war mehr als unglücklich. Es sind nicht die Klaws-Spiele. Es sind die Karl-May-Spiele, die seit Jahrzehnten die Menschen begeistern. Nehmt diesen Gedanken zum Anlass, sich diese fulminante Aufführung zu gönnen! Viel Vergnügen!
WWR – Andreas Hardt